Nach dem Frühstück im Hof verschließen wir nun das Hoftor der bemerkenswerten Herberge der Familie von Rhoden in Siebleben. An diese werden wir noch lange denken. Etwas verschlafen trotten wir entlang der B7 durch die Vorstadt von Gotha. Der Berufsverkehr braust an uns vorbei und nach den vielen ruhigen Tagen in der Natur und wegen der Feiertage nervt das schon etwas. Hier sieht man auch noch ganz deutlich die graue Vergangenheit der Stadt. Die alte Residenzstadt der Herzöge von Sachsen-Coburg-Gotha war Industriestadt (Straßenbahnen, Flugzeuge, Maschinenbau, Druckindustrie) und auch Militärstandort. Und so findet man neben diversen Industriebrachen, die vom Niedergang der Großindustrie nach der Wende 1989 zeugen, auch verfallende Kasernenbauten aus Kaisers Zeiten. Gotha wurde wegen der großen industriellen Bedeutung am Ende des 2.Weltkrieges durch die Alliierten bombardiert und erlitt schwere Schäden. Ich kenne Gotha nur von einem Besuch Anfang der Neunziger. Und da bot die Stadt immer noch einen schlimmen Anblick. Sie erschien grau/schwarz, so wie viele Industriestädte der ehemaligen DDR. An vielen Stellen sah man noch die Hinterlassenschaften der abziehenden sowjetischen Besatzungstruppen. Riesige militärische Übungsgelände bei Ohrdruff oder auf dem Kriegberg bei Gotha begründeten diese hohe Truppenkonzentration.
Nun laufe ich nach 20 Jahren wieder durch Gotha, habe keine besonders schönen Erinnerungen an die Stadt und so auch keine besonderen Erwartungen an diese. Wir gehen an langen hohen Zäunen entlang, an denen Schilder hängen, die darauf hinweisen, dass hier ein Wachschutzunternehmen für Ordnung sorgt. Dahinter stehen jedoch nur leere verfallene Gebäude, für die sich bisher wahrscheinlich noch kein Investor fand. Auch der große Busbahnhof, den wir überqueren wirkt nicht besonders einladend oder einfallsreich. Komisch, dass die meisten Städte ihre Visitenkarte so vernachlässigen. Auf Bus- oder Eisenbahnhöfen kommt man an in einer Stadt und dort bekommt man doch seinen ersten Eindruck von dieser. Wenn der aber schon nicht der beste ist….? Nun muss sich Gotha aber mächtig ins Zeug legen, damit ich es in guter Erinnerung behalte.
Je näher man aber an das Zentrum heran kommt, so schöner wird die Stadt. Auf dem Neumarkt machen wir eine kurze Rast auf einer Bank an der Margarethenkirche. Die Kirche ist leider verschlossen und so können wir uns nur die schön restaurierten Kauf- und Patrizierhäuser am Neumarkt näher ansehen. Nun noch die Marktstraße hinauf und wir stehen auf dem Hauptmarkt. Hier fallen besonders das historische Rathaus und die Innungshalle mit dem Glockenspiel ins Auge. Am Rathaus vorbei blickend, sieht man das Schloss Friedenstein. Das Wahrzeichen Gothas ist der größte früh – barocke Feudalbau Deutschlands. Das Angebot an Sehenswürdigkeiten ist riesig. Die begehbaren Kasematten, der Schlosspark, die Orangerie, das Schloss Friedrichthal, das Winter- und das Prinzenpalais, das herzöglichen Museum und der älteste englische Garten auf dem europäischen Kontinent warten auf eine Besichtigung. Um sich all das ansehen zu können, braucht man sicher mehr als einen Tag in Gotha. Wie sollen wir das schaffen, wenn wir zu Fuß durch die Stadt gehen und noch 24 Kilometer vor uns haben? Also kommen wir erst gar nicht auf die Idee, dafür Zeit aufzuwenden. Wissen aber nun, dass unser erster Eindruck zum Glück falsch war und es Gotha inzwischen Wert ist, dass man sich die Stadt einmal näher ansieht. Heute aber nicht, denn wir wollen (wie schon geschrieben) ja noch einige Kilometer unter die Füße nehmen. Durch die Eigenheim- und Schrebergartensiedlung “Die Klinge” geht es immer leicht ansteigend aus der Stadt heraus. Auf der rechten Seite sehen wir den Bürgerturm, einen 30 Meter hohen Aussichtsturm auf dem Krahnberg. Die 158 Stufen würden wir sicher erklimmen, wenn der Weg direkt an diesem vorbei führen würde. Doch tut er nicht. Ich hoffte es zwar, denn er wäre eine gute Landmarke und eine gute Möglichkeit gewesen sich zu orientieren und ein paar Fotos zu machen.
Hier auf dem Kahnberg und dem anschließenden Kriegberg sind die Wegzeichen sehr rar. Und so sind wir froh, als wir einen Förster mit seinem Hund treffen, der uns sagen kann, wie es weiter geht. Eigentlich muss man nur die Hauptrichtung Westen einhalten und bei Gabelungen auf den breiteren Wegen bleiben. Die Wege hier oben auf dem Kriegberg gehen mehr und mehr in Betonpisten über. Diese Betonpisten sind Überbleibsel eines riesigen Truppenübungsplatzes, der sich hier oben befand. Dass früher hier viel mehr stand, davon zeugen die vielen Abzweigungen, die ins Nirgendwo führen. Von den Altlasten, die die sowjetischen Truppen hier hinterließen, ist bis auf die Betonpisten oberflächlich nichts mehr zu sehen. Was unter der Erde hier noch alles liegen könnte, kann ich nur vermuten. Doch einen Vorteil hat die frühere militärische Nutzung auch. Das Areal konnte nie intensiv landwirtschaftlich genutzt werden und ist so weitestgehend frei von Düngemitteln oder Pestiziden geblieben. Der Kriegberg entwickelte sich so zu einem der bedeutsamsten Flächen für Arten- und Biotopschutz des Landes.
Von hier hat man einen schönen Ausblick zum großen Inselsberg, einer der höchsten Erhebungen im Thüringer Wald. Dort wollen wir in zwei Tagen sein und wir wollen da auch drüber. Er sieht eigentlich schon recht nah aus aber auch mächtig hoch. Und so mache ich mir Gedanken, ob es nicht einen Weg drum herum gibt. Aber noch ist es nicht soweit und so sollte ich eher an den Umweg über Eisenach denken, der noch vor uns liegt. Etwa 10 Kilometer zieht sich das Gebiet des Kriegberges hin. Das Betonband bleibt den gesamten Tag unter unseren Füßen. Man durchquert auf dieser Etappe nicht eine Ortschaft. Wir laufen wieder nördlich, parallel zur Bundesstraße B7, die hier den ursprünglichen Wegverlauf der Via Regia darstellt. Die Piste ist zwar hart aber immer noch besser, als an der Bundesstraße entlang zu laufen. Nur schade, dass man so die meisten Ortschaften im wahrsten Sinne des Wortes Links liegen lässt.
Also kommen wir auch nicht durch Aspach, in dessen Nähe wir wieder ein Steinkreuz finden. Dieses ist gut erhalten und man sieht recht deutlich ein großes Richtschwert und die Jahreszahl 1839 auf dem Stein. Das Kreuz erinnert an die letzte öffentliche Hinrichtung 1839 im Herzogtum Gotha und wurde erst 1929 aufgestellt. Einer Überlieferung zu Folge war hier der Tatort, an dem ein Schusterjunge erschlagen worden ist.
Wir verabschieden uns, sehen ihr nach und wundern uns etwas, als sie plötzlich nach rechts vom Weg abbiegt. Dort geht es nach Neufrankenroda. “Na vielleicht will sie sich nur die dortige Herberge mal ansehen?” In Neufrankenroda befindet sich die Familienkommunität SILOA e.V. Das ist eine Art Kommune von mehreren Familien, die zusammen leben, eine Landwirtschaft gemeinschaftlich betreiben und sozial wie kulturell sehr rührig ist. Hier werden unter anderem auch Pilgerunterkünfte angeboten. Von dieser Art des Zusammenlebens und – wirtschaftens hatten wir schon im vorigen Jahr auf dem Camino Frances gehört. Ein Mitpilger, mit dem wir auch heute noch Kontakt haben, verfolgt ein ähnliches Konzept der gemeinsamen Bewirtschaftung eines Bauernhofes in der Lüneburger Heide. Leider passte die SILOA nicht in unseren Etappenplan. Es wäre sicher sehr interessant dort gewesen. Also lassen wir den Abzweig nach Neufrankenroda rechts liegen und gehen weiter. Auch unsere Radfahrerin treffen wir wieder. Sie überholt uns wenig später zum zweiten Mal. Sie hatte sich einfach nur verfahren. So ist das mit dem Rad. Man sieht oft nur die Hälfte und da übersieht man eben auch mal sehr schnell so ein kleines blaues Schildchen oder verwechselt es. Denn am Abzweig steht nur das Hinweisschild mit dem kleinen gelben Häuschen, welches auf die Herberge hinweist und kein Muschelschild geradeaus. Also blicken wir ihr wieder hinterher und beneiden sie gar nicht um ihr Fahrrad. Denn sie quält sich gerade furchtbar eine lange Steigung hinauf und muss für ein paar hundert Meter sogar absteigen, um ihr Rad zu schieben. Dann hat man außer dem Gewicht des Gepäcks auch noch das Fahrrad am Hals. Nee, das wäre nichts für mich. Das wird auch nicht dadurch aufgewogen, dass man bei Gefälle die Füße hoch nehmen kann. Und wenn dann auch noch Gegenwind dazu kommt….!
Es kann nicht mehr weit sein bis zum Abzweig nach Mechterstädt. Und dann stehen wir vor einem Wegweiser, der uns nach links vom eigentlichen Weg zur Herberge im Bodelschwingh – Hof Mechterstädt leiten soll. Die Unterkunft liegt zwar etwas abseits vom Weg, ist aber in allen Punkten empfehlenswert. Der Bodelschwingh – Hof ist eine Einrichtung der Diakonie und bietet geistig- oder körperlich behinderten Menschen ein Heim und ein menschenwürdiges Dasein. Neben dem Heim werden verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten in sogenannten geschützten Werkstätten angeboten. Wir haben eine Gärtnerei und eine Schlosserei gesehen und auch in der Küche helfen die Behinderten fleißig mit. Es ist eine Einrichtung mit viel Tradition, denn schon 1949 gründete hier ein kriegsversehrter und heimatvertriebener Gärtner im Auftrag der Evangelischen Kirche auf brach liegendem Land eine Gärtnerei. Hilfsbedürftigen Menschen sollte so eine Bleibe und eine sinnvolle Beschäftigung gegeben werden. Das Ziel dabei ist neben einer Therapie auch die Integration ins soziale Leben. Heute ist das hier eine sehr moderne Einrichtung und wir staunen nicht schlecht über die Ausmaße der Einrichtung. Bei einer Rekonstruktion wurden unter einer neu angebauten Terrasse am ersten und damit ältesten Haus im Gelände drei Gästezimmer eingerichtet. Hier soll die Möglichkeit gegeben werden, dass vor allem Besucher, die von weit her kommen, längere Zeit bei ihren Angehörigen bleiben können. Ein schöner Nebeneffekt ist so entstanden, dass nun auch Pilgern eine Zuflucht geboten werden. Der Eingang zur Unterkunft ist schnell gefunden und auch jemand, der uns hinein lässt. Was wir hier vorfinden, besitzt Hotel Niveau.
Ein neues Doppelbett mit richtiger Bettwäsche verspricht eine bequeme Nachtruhe. Eine eigene Dusche und das persönliche WC sind auf Pilgerwegen auch nicht Normalität. Auf dem Gang könnte man an einer kleinen Küchenzeile auch sein eigenes Essen kochen.
Das haben wir aber heute nicht vor, denn im Ort ist doch sicher was zu finden. Wir wollen auch nach einer Einkaufsmöglichkeit für die morgige Wegzehrung suchen. Auf der Suche nach der Verwaltung der Einrichtung muss ich mehrmals nach dem Weg fragen. Schließlich will ich doch noch unseren Obolus für die Unterkunft los werden, denn eine Spendenkasse suchte man im Zimmer vergebens. 10€ kostet es hier pro Person – ein sehr angemessener Preis. Die beiden netten Damen in der Kasse halten mich dann mehr als eine halbe Stunde auf. Sie wollen alles ganz genau wissen, woher wir kommen und wo wir hin wollen und warum und wie es uns geht. Und als ich dann noch erzähle, dass das hier nur ein kurzes Zwischenspiel ist und wir nach dem Camino Frances im vorigen Jahr in diesem noch einmal nach Santiago laufen wollen, sind sie vollkommen fasziniert und löchern mich weiter mit ihren Fragen. Doch auch ich erfahre hier noch viel interessantes über die Einrichtung.