Die Straßen an diesem Montag Morgen sind fast menschenleer. Es ist Pfingstmontag und die meisten horchen wohl noch an ihren Matratzen. Uns soll es Recht sein. Bei wenig Verkehr auf den Straßen sind wir ruck zuck in Erfurt und laufen nach der Verabschiedung unseres Gastgebers, den Wegweisern folgend, die hier wieder recht häufig anzutreffen sind, zunächst in Richtung des EGA Geländes durch die Stadt.
Parallel zur B7, die in Richtung Gotha führt, laufen wir abseits dieser Bundesstraße und damit fern von Verkehr und Lärm, durch den Bühlauer Hohlweg. Schöne Vorstadtvillen und ältere Eigenheime säumen den Weg. An einem Haus fällt uns ein Schild auf: “Santiago de Compostela 2364 km” und daneben ein kleines Autosymbol und neben einem kleinen Fußgänger steht 3000 km. Eine Jakobsmuschel ist auf dem Wegweiser ebenfalls angenagelt. Wir diskutierten noch lange, weshalb der Schild – Aufsteller die Entfernung nach Santiago mit dem Auto so genau kennt, wobei die Strecke zu Fuß ja nur sehr grob geschätzt ist. Es sollte doch ein großer Zufall sein, wenn ausgerechnet an dieser Stelle es noch genau 3000 Kilometer wären. Auch der große Unterschied zwischen Straßen- und Fußweg- Kilometer erscheinen mir doch recht fragwürdig. Aber die Geste und die Tatsache, dass dieses Schild ausgerechnet hier steht, zeigt doch mal wieder, dass man diesen Weg und seine Pilger wahrnimmt und würdigt. Wir wollen ja in diesem Jahr auch noch in Santiago einlaufen, auch wenn da zu diesem Zeitpunkt noch einige Flug- Bus- und Fuß- Kilometer dazwischen liegen. Wir diskutieren darüber, ob wir das (angenommen wir hätten so viel Urlaub und würden das versuchen) bis zum vereinbarten Zeitpunkt schaffen könnten. Ergebnis: Wir würden das zeitlich ganz bequem schaffen. Ob es körperlich machbar ist, steht aber auf einem ganz anderen Blatt.
Anmerkung: (Zu diesm Zeitpunkt hatten wir noch vor, den Camino Primitivo allein von Oviedo aus zu gehen und unser Freund Jörg wollte mit seiner Tochter zwar die gleichen Flüge nach Asturias nehmen aber mit dem Bus weiter nach Leon fahren. Während wir also von Oviedo aus los gelaufen wären, hätten Jörg und seine Tochter sich in Hospital de Orbigo auf den Weg gemacht. Wir wollten uns dann nach jeweils 10 Etappen in Palas de Rei treffen und den Rest gemeinsam gehen. Jörg hatte so vor, seinen 2010 abgebrochenen Camino Frances zu vollenden und wir hatten die Möglichkeit einen neuen und wie wir jetzt wissen, völlig andersartigen Weg gehen. Wer nun in meinem Blog schon den Bericht über unseren Camino Primitivo gelesen hat, weiß dass es ganz anders gekommen ist. Die Familienplanung von Jörgs Tochter war halt etwas schneller und er ist kurz nach unserem gemeinsamen Weg von Oviedo bis nach Finisterre zum zweiten Mal Großvater geworden, was ja auch schön ist.)
Doch ich schweife ab vom Thema. Also zurück zur Via Regia!
Sehr schnell haben wir Erfurt hinter uns gelassen. Auf dem ein wenig ansteigenden Weg nach Schmira sehen wir noch einmal die Silhouette der Stadt mit den markanten Türmen des Doms und der Severikirche. Rechts von uns erblicken wir den Erfurter Flughafen. In Schmira packen wir zum zweiten Frühstück auf einer Bank unsere Mitbringsel aus. Mehr als ein Apfel ist nicht drin. Ich bin allerdings immer noch vom tilpschen Frühstück satt. Hinter Schmira geht ein ganz neuer asphaltierter Radweg leicht aber stetig bergauf zur A71, die wir über eine schmale Brücke überqueren. Von hier sieht man bereits die markanten Hügel mit den “drei Gleichen“. So werden die Burg Gleichen bei Wandersleben, die Mühlburg bei Mühlberg und die Veste Wachsenburg bei Holzhausen genannt.
Die Burgen aus dem 8. und 11. Jahrhundert hatten nie den selben Besitzer und sehen auch äußerlich sehr unterschiedlich aus. Weshalb nennt man sie dann trotzdem die “drei Gleichen”? Wie so oft versucht eine Sage dies zu erklären: Der Begriff “die drei Gleichen” entstand nach einem Kugelblitzereignis am 31.Mai 1231, als nach einem Blitzeinschlag alle drei Burgen gleichzeitig brannten und diese wie Fackeln weithin sichtbar waren. Die Mühlburg und die Burg Gleichen sind heute gut erhaltene Ruinen. Nur die Wachsenburg wurde restauriert und es befindet sich heute ein Hotel in den mittelalterlichen Gemäuern.
Gleich hinter der Autobahnbrücke hätten wir uns fast das erste Mal verlaufen. Das Wegzeichen ist hier stark verwittert, nur sehr undeutlich erkennbar auf einen Stein in einem Abwassergraben gemalt und zu allem Überfluss auch noch durch Unkraut verdeckt. Auf alle Fälle für die, die uns hier auf dem Weg folgen wollen: Nach der Autobahnüberführung rechts halten. Ich verweise hier mal über einen Link sicherheitshalber auf diese Stelle.
Auf der heutigen Etappe fallen uns einige steinerne Kreuze auf, die am Weg stehen. Eins davon entdecken wir östlich und eins westlich von Kleinrettbach. Auf einer Infotafel am letzteren ist zu lesen, dass das Kreuz hierher 350 Meter versetzt wurde, da es ursprünglich mitten auf einem Feld stand, wo es natürlich im Sommer nicht zu sehen gewesen war. Nun steht es direkt am Thüringischen Jakobsweg. Wiederum gibt eine Sage Auskunft über den Ursprung des Kreuzes: Im Dreißigjährigen Krieg standen sich östlich und westlich des Ortes Kleinrettbach zwei feindliche Truppen gegenüber, die sich jedoch im Nebel verfehlten. So blieb der Ort verschont, und zum Dank errichtete man an den Lagerstellen je ein Steinkreuz.
Diese zwei Kreuze hatten der Sage zu Folge also einen recht positiven Hintergrund. Jedoch wurden viele solcher Steinkreuze als Sühnekreuze aufgestellt. Sühnekreuze sind Denkmäler des mittelalterlichen Rechts. Es wurden sogenannte Sühneverträge zwischen verfeindeten Parteien geschlossen, die eine Blutfehde wegen eines begangenen Mordes oder einer anderen Gewalttat zu beenden. Das Kreuz war der für alle sichtbare Teil des Vertrages. Steinkreuze sind dagegen ab dem 16. Jahrhundert entstanden und als Wetter-, Pest-, Stationskreuze von Pilgern und Prozessionen oder auch als Grenzmarkierungen gesetzt worden. Da Inschriften verwittert oder schriftliche Dokumente kaum mehr vorhanden sind, ist es schwierig das eine vom anderen zu unterscheiden. Vieles beruht auf Erzählungen und Sagen, was das Ganze für uns heute spannend und interessant macht.
Die Eintönigkeit der asphaltierten Radwege verlangt heute nach solchen interessanten Stellen. So sehr ich solche Radwege als Radfahrer mag, so sehr ersehne ich heute naturbelassene Feldwege, wie wir sie bisher häufig vorfanden. Da hilft es nur, den Randstreifen der Wege zu benutzen, damit die Füße auch mal etwas Abwechslung bekommen. Abwechslung bekommen wir in Tüttleben. Da weckt am Ortsausgang ein Quad unsere Neugier, welches mit affenartiger Geschwindigkeit kreuz und quer über eine Wiese prescht. Was das zu bedeuten hat, erkennen wir aber erst, als wir näher kommen. Auf der Wiese sind etwa 3 Meter breite Streifen, ähnlich einem Verkehrskindergarten gemäht worden. Auf diesen Streifen verlegt das Quad ein Seil um zahlreiche Umlenkrollen, die sich in den Kurven der Strecke befinden. Am Rand der Wiese erhebt sich ein Turm aus Baugerüsten, auf dem einige Leute stehen. Nun ist klar, wo wir hier rein geraten sind, in ein Windhundrennen.
An dem Seil wird der “falsche Hase” befestigt, der mit einer Wahnsinns Geschwindigkeit mittels einer kleinen Seilwinde über den Parcours gezogen wird. Mein erster Eindruck: Die dummen Hunde hetzen dem “Hasen” hinterher, die schlauen kürzen durch das hohe Gras ab, was aber zum Ärger der Besitzer zur Disqualifikation führt. Man klärt uns jedoch auf: Windhunde jagen mit den Augen, was für Hunde, die ja eigentlich Nasen – Tiere sind, schon recht seltsam ist. Man sieht aber, dass die Windhunde, sobald sie die Beute aus den Augen verlieren, verwirrt stehen bleiben und querfeldein über den Platz irren, was die Besitzer immer sehr ärgerlich macht. Aus allen Teilen Europas sind hier Hundebesitzer mit ihren Schützlingen angereist. Da sind Italiener, Holländer und sogar Briten, die am Vereinsgelände ihre Camper geparkt haben. Wir sehen so etwas zum ersten Mal. Unser Wauwau ist ja eher ein Lagerhund, sprich: Er hat es nicht so mit dem Laufen und liegt recht dekorativ im Haus rum, frisst ab und zu und muss danach kurz in den Garten. Er hat ein sogenanntes Hundeleben und ich wünsche mir manchmal, wenn es ein zweites Leben geben sollte, so möchte ich als mein Hund auf die Welt zurück kommen.
Der große Schlüssel zum Kastenschloss des Hoftores befindet sich tatsächlich am vereinbarten Ort. Was uns dann erwartet, als wir den Hof betreten, haut uns fast um. Da steht ein großer rustikaler Tisch auf dem kleinen Hof unter einem Nussbaum. Auf diesem Tisch steht eine Karaffe Wasser und zwei Gläser hinter einem handgeschriebenen Zettel. Voll Rührung lesen wir den Zettel: “Herzlich Willkommen! Wir sind heute unterwegs. Fühlen sie sich wie zu Hause. (Pilgerzimmer ist über der Werkstatt, Bad + Küche im Wohnhaus.) Wir kommen am späten Abend zurück.” Da öffnet eine Familie ihr Wohnhaus – uns, die sie zuvor nie gesehen haben. Ich stelle mir vor, wie ich mich als Hausbesitzer verhalten würde, wenn wildfremde Menschen um Einlass bitten und ich nicht da wäre, wenn sie ankommen.
In der heutigen Zeit, wo viele Hausbesitzer über noch sicherere Schlösser oder noch bessere elektronische Sicherungsanlagen nachdenken oder für solche bereits Unsummen ausgegeben haben, wird üblicherweise öffentlich zu Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen aufgerufen. Wir sind zeitiger da als erwartet und die Familie ist gerade im Aufbruch, viel zu wenig Zeit, um sich näher Kennen zu lernen.
Nur ein paar Sätze können wir wechseln, zu wenig für ein umfassendes Bild, wen wir da vor uns haben und vor allem wen sie da vor sich haben. Und wenn wir nur 5 Minuten länger bei den Windhunden geblieben wären, hätten wir sie gar nicht mehr gesehen. “Falls wir im Garten übernachten und uns nicht noch mal sehen, werfen sie den Schlüssel in den ….” Diese Menschen gewähren uns einen intimen Einblick in ihre Familie, in dem sie ihr Haus für uns öffnen. Wir sind völlig perplex. Unsere erste Aufmerksamkeit gilt dem Pilgerzimmer. Über eine steile Holzleiter an der Stirnseite der Werkstatt kommt man in einen kleinen Raum auf dem Spitzboden. Drinnen befinden sich zwei Matratzen, eine Stehlampe, ein Hocker und ein kleiner Tisch, auf dem die Spendenkasse, das Pilgerbuch und der Stempel liegen. Draußen steht auf einem winzigen Balkon ein dafür viel zu großer Schaukelstuhl aus Korb vor dem Eingang. Alles sieht sehr rustikal aus, zeugt aber von einem ausgeprägten Sinn für Formen und Farben. Genau so sieht es auch im Wohnhaus aus, welches wir zugegebenermaßen sehr gespannt betreten, um zu duschen. Ein neugieriger Blick in die Räume des Erdgeschosses verrät uns, dass hier ganz besondere Menschen leben. Ich glaube, dass hier kaum ein Möbelstück jünger als 100 Jahre alt ist.
Alles ist stimmig, schlicht, aufgeräumt und äußerst passend eingerichtet. Man hätte zwar das Inventar komplett in ein Museum geben können, jedoch scheint alles seinen Zweck noch zu erfüllen. In der heutigen Wegwerfgesellschaft ist es für mich sehr wohltuend, so etwas zu sehen. Hier wohnen Leute mit Wertschätzung für das Können und den Zeitgeschmack unserer Vorfahren. Man benutzt alltäglich praktische und funktionale Sachen, die bei anderen längst im Sperrmüll gelandet sind. Und diese Dinge des alltäglichen Lebens erfüllen weiterhin sehr gut ihren Zweck. Man folgt hier einer Lebensweise, die uns zwar völlig fremd erscheint, manchen vielleicht sogar sonderlich vorkommt aber bei näherer Betrachtungsweise eigentlich erstrebenswert ist. Das Leben in unserer Überflussgesellschaft erzeugt immer noch mehr Begehrlichkeiten nach dem letzten Schrei oder dem was uns die Werbung suggeriert unbedingt besitzen zu müssen. Und wenn der Reiz des Neuen vorbei ist, merkt man erst, wie überflüssig manche Dinge sind und wie viele davon eigentlich nur Statussymbole sind. Diese Unterkunft und die Lebensweise dieser “Herbergseltern” verkörpern am ehesten unsere Motive, die uns zum Pilgern gebracht haben, nämlich wieder zu lernen mit einfachen Mitteln aus zu kommen und trotzdem zufrieden zu sein. Es ist sicher recht einfach, für die beschränkte Zeit einer Pilgerschaft dieses Leben zu leben. Aber wenn im Ergebnis man nur einen Teil dieser Lebensweise im Alltag auf Dauer umsetzen kann, würde es der Gesellschaft sicher besser gehen.
Vieles ist selbst gezimmert oder liebevoll restauriert. Kein Wunder, denn der Hausherr verfügt über eine gut eingerichtete Schreinerwerkstatt unter unserem Pilgerzimmer.
Bevor wir es uns in der Dämmerung auf dem Hof bei einer Flasche Roten noch bequem machen, drehen wir noch eine Runde durch den Ort. Siebleben ist ein Vorort von Gotha, ein lang gezogenes Straßendorf an der B7. Der Ort hat 5 Restaurants und 3 Kaffees. Die größten Sehenswürdigkeiten sind die vielen Orte von Bedeutung auf dem Seeberg das Schloss Mönchhof mit Park und Schlossteich, die Kirche St. Helena mit Kirchgarten und Denkmal und die Gustav Freytag Gedenkstätte. Davon sehen wir aber nur einen kleinen Teil, denn auch am heutigen Tag sind wir bereits satt von den Eindrücken, die wir unterwegs gesammelt haben. Und irgend wann will man eigentlich nur noch DA sitzen, so wie der dicke Mann mit der Knollennase im Loriot – Sketch “Feierabend“. Und so will ich auch für heute schließen und nur so da sitzen.
Morgen laufen wir die vorletzte Etappe auf der Via Regia bis nach Mechterstädt. Es wird immer hügeliger.