Auch heute laufen wir nach dem kurzen Frühstück vor der Kirche in Stedten sehr früh los. Wir verabschieden uns nochmals von unserer neuen aber kurzen Bekanntschaft aus Gera, denn sie will erst später los ziehen in Richtung Erfurt. Ein prüfender Blick in den Schlafraum, die Küche und das WC – nichts vergessen – und los. Die Sonne geht gerade auf, als wir durch die noch feuchten Wiesen in Richtung Ottmannshausen laufen. Sie steigt wie an bisher jedem Tag in einen fast wolkenlosen Himmel. Man was haben wir bisher für ein Schwein mit dem Wetter! Die unbenutzte Regenkleidung ist unterdessen am Boden des Rucksackes angekommen und wir hoffen, dass die da auch an den nächsten Tagen bleiben kann.
Am Ortseingang des kleinen Ortes Ottmannshausen fällt mir ein Hof auf, auf dem viele alte Landmaschinen aus DDR – Zeiten stehen. Ob Mähdrescher E512, Geräteträger RS09, Traktor Famulus, Bagger T157 (auch scherzhaft Erdbeerpflücker genannt) oder Zugmaschine ZT300, all die Maschinen kenne ich noch gut und ich wundere mich, wer wohl auf die Idee kommt so etwas zu sammeln bei dem erforderlichen Platzbedarf. Manches macht jedoch auch nicht den Eindruck, dass es noch einsatzfähig ist.
Am erstaunlichsten an dem Morgen ist dann aber ein sehr schmuckes Freibad am Ortsausgang des winzigen Dorfes. Wie sich ein so kleines Dorf ein solches Bad leisten kann, ist mir echt unklar. Unsere Stadt kann sich nicht mal einen ausreichend großen Raum leisten für die 46 Mitglieder unseres Heimatvereins.
Die heutige Etappe bis Erfurt ist nicht sehr lang, und wir wollen zudem nur bis Vieselbach, einem kleinen Ort im “Speckgürtel” der Landeshauptstadt des Freistaates Thüringen. Vieselbach liegt etwa 7 Kilometer vor Erfurt. Und so bleibt uns der echt langweilige Weg durch die Gewerbegebiete vor der Stadt erspart. In Vieselbach haben wir eine private Unterkunft in einem Eigenheim. Und das kam so: Der Ehemann einer Vereinskameradin arbeitet die Woche über in Erfurt. Und damit er nicht jeden Tag von Delitzsch nach Erfurt fahren muss, hat er eine Einliegerwohnung in Vieselbach gemietet. Als man im Verein nun mit bekam, was wir vor hatten und wo wir entlang laufen würden, kam dann sofort das Angebot, dass wir doch dort übernachten könnten, da er selbst die Wohnung am Wochenende ja nicht braucht. Wir nahmen dankend an. Denn in Erfurt sind die Unterkünfte nicht nur etwas teurer, man kommt auch des Öfteren nicht rein, weil sie ausgebucht sind. Gerade im Augustiner Kloster, der ersten Adresse für einen Pilger in Erfurt, übernachten oft Gruppen und da schickt man schon mal einen Pilger weiter, obwohl dort extra Pilgerzimmer eingerichtet wurden.
Aber eigentlich wollen wir uns ja Erfurt ansehen. Und so tun wir etwas, was sonst bei uns etwas verpönt ist auf einer Pilgerreise und was wir sonst nur in Notsituationen machen würden. Wir steigen in einen Bus. 20 Minuten später stehen wir im Zentrum von Erfurt und haben uns auf diese Weise die Gewerbegebiete und Betonsilos der Erfurter Vorstadt gespart. Heute sind wir ganz normale Touristen, ohne Rucksack auf dem Rücken, ohne Stöcke in der Hand, ohne auf der Suche zu sein nach dem nächsten Wegweiser oder der nächsten Herberge. Einzig das Outfit sieht noch nach Pilger aus. Denn natürlich haben wir den guten Zwirn, den man sonntags sonst trägt, nicht mit im Rucksack hierher getragen. Wobei ich mich frage, wie das manche Pilger auf dem Frances gemacht hatten, die man am Tag auf dem Weg sah und die abends im Jackett über die Plaza Mayor streiften. Am heutigen Tagesende werden wir aber trotz unseres kurzen Weges heute schmerzende Füße haben, denn das historische Zentrum von Erfurt muss man sich wirklich erlaufen.
Auch Pilger, die hier nur durch gehen wollen, sollten sich die Zeit nehmen und einige Runden drehen. Diese Stadt ist das wirklich wert. Andreas Vater stammt aus der Nähe von Erfurt und sie kennt die Stadt am Gera Fluss zumindest von Früher. Ich war noch nie in Erfurt, bin auch hier bisher nur durch oder vorbei gefahren. Sehenswürdigkeiten wie die Krämerbrücke, den Fischmarkt oder den Dom kenne ich nur von Fotos oder Fernsehberichten. Sie sind es aber Wert, dass man sie persönlich in Augenschein nimmt, genauso wie die tausenden Touristen, die dies täglich tun. Nun will ich hier nicht die Werbebroschüre des Stadtmarketing abschreiben. Wer mehr über Erfurt wissen will, sollte sich diese Seite mal näher ansehen. Hier steht eigentlich das Wichtigste über Erfurt drin.
Im Erfurter Dom bekommen wir unseren Pilgerstempel, nachdem wir uns auch die Severikirche auf dem Domberg angesehen haben. Auch die etwas weniger spektakulären Wege durch die kleinen Gassen der Altstadt sind sehr sehenswert und man entdeckt immer wieder interessante Details an den Fassaden, der mit viel Liebe rekonstruierten mittelalterlichen Häuser. Die Stadt ist heute besonders voll. Oft müssen wir uns durch die Menschenmassen schlängeln und die Wartezeiten in den gut besuchten Straßenkaffees sind heute etwas länger.
Das Pfingstwochenende und das schöne Wetter haben viele Menschen in die Stadt gespült. Und ehrlich, ich laufe lieber 30 Kilometer straffen Schrittes durch die Landschaft, als dass ich wie hier an diesem Pfingstsonntag langsam durch die Gegend schlurfe und laufend stehen bleiben muss. Da schmerzen mir die Füße noch mehr. Dieser Trubel nervt mich auch ganz schnell. Schließlich sind wir bisher tagelang nur durch die Natur gegangen. Wanderer und Pilger kennen das Gefühl, hier schnell wieder raus zu müssen, wenn der Reiz des Neuen abgeklungen ist. Unsere Vermieter sind auch sehr erstaunt, als wir schon vor 18 Uhr wieder vor ihrer Tür stehen. Nun wollen wir die Gastfreundschaft der netten Leute jedoch nicht noch weiter strapazieren und uns im Ort selbst etwas zu Essen beschaffen. Es ist Pfingsten, da wird doch irgendwas offen sein. Von Fern hören wir, wie eine offenbar größere Musikanlage abgestimmt wird. Immer wieder sind Wortfetzen zu hören oder kreischende Klänge von Gitarren. Ich versuche die Quelle akustisch zu orten und meine, dass der Krach (Musik sollte erst später daraus werden) vom Sportplatz kommt. Da wo Musik ist, da sind Menschen. Da wo Menschen sind, da gibt es was zu Essen und zu Trinken. Da wo Thüringen ist, gibt es Bratwürste. Also machen wir uns auf, um unseren Hunger zu stillen. Der Sportplatz ist leicht zu finden. Wir müssen nur den Anderen hinterher gehen. Hinter den mit Planen als Sichtschutz bespannten Bauzäunen um den Sportplatz steigen verdächtige blaue Rauchfahnen auf, die nach Thüringer Rostbratwürsten duften. Nichts wie rein hier, denn mir tropft bereits der Zahn, bzw. bemerke ich, wie sich eine kleine Pfütze auf der Zunge bildet. Acht Euro Eintritt – pro Person !! Verhandlung nicht möglich! Das ist die bisher teuerste Bratwurst meines Lebens. Andrea staunt nicht schlecht, als ich fast ohne zu murren das Geld hinlegte. Wer da spielt und was das für Musik sein würde, ist mir zunächst völlig egal. Ich habe Hunger und auch ein bisschen Appetit wegen des betörenden Geruches. Da vergesse ich meinen Geiz. Mit unseren Würsten und einem Becher Bier bzw. Radler in der Hand setzen wir uns an einen Tisch, an dem bereits ein anderes Pärchen auf den Beginn des Konzertes wartet.
Die Techniker sind immer noch beim Stimmen. “Was iss´n das für ne Truppe?” “Accustica aus Erfurt. Die kennt ihr wohl nicht? Die sind lustig.” , schallt es mir schreiend wegen den “Musikanlagenstimmern” von gegenüber entgegen. “Nee, kenn ich nich. Mir sinn nich von hier.” Die Band scheint hier aber so ne Art Kultstatus zu genießen, denn man sieht viele Groupies, die ein T-Shirt mit einem Logo der Band tragen. Der Platz füllt sich zusehends. Das scheinbare Alter der Anwesenden hat eine Spanne, die man auf einem Rockkonzert eher nicht vermutet. Da ist von 7 bis 70 alles vertreten und alle scheinen in freudiger Erwartung zu sein, was mich zuversichtlich stimmt, die 16 Euro doch ganz gut angelegt zu haben. Die Bandmitglieder sitzen am Nachbartisch, was mir aber erst jetzt auffällt. Die brauchen keinen Backstage Bereich und sehen aus wie du und ich. Sie zeigen keinerlei Allüren und wirken sehr sympatisch. Das sieht eher aus wie ein Familienausflug mit Kindern. Doch nun scheint es los zu gehen. Und schon sehen die Kollegen ganz anders aus auf der Bühne. Das sitzt der Schlagzeuger doch tatsächlich in einer alten Volkspolizei Uniform an der Bude und schafft sich. Und das geht hier richtig ab, was die da oben machen. “Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“, ein Kindergarten – Lied aus meiner frühesten Kindheit in einer Rockversion – der Platz tobt und alle singen mit – ich auch. Schaut euch mal das Video bei Youtube an und ihr werdet meine Begeisterung verstehen. Leider können wir nicht bis zum Schluss bleiben, da wir ja am nächsten Tag wieder was vor haben, nämlich bis nach Gotha zu laufen. Das verträgt sich nicht, wenn man bis in die späte Nacht auf dem Rockkonzert ist und dann am nächsten Morgen vor hat, 30 Kilometer zu laufen. Schweren Herzens brechen wir deshalb auf. Auf dem Heimweg versuchen wir noch einige Titel mit zu bekommen, die durch die Straßen von Vieselbach schallen. Die Fenster der Wohnung sind aber recht schalldicht, so dass wir entgegen unserer Befürchtung eine ruhige und erholsame Nacht bekommen.