Das ist in zwei Tagesetappen machbar. Einziges Problem ist, eine geeignete Herberge in der Nähe des Höhenweges zu finden. Die meisten der alten Bauden aus DDR Zeiten haben die Wende nicht überlebt. Viele Unterkünfte liegen weitab und viel tiefer in den Seitentälern. Viele nehmen keine Tagestouristen für nur eine Nacht auf bzw. nur mit horrenden Preisaufschlägen. Der einzige Ort, der entsprechend unserer Planung als Etappenziel in Frage kam, ist Friedrichroda. Hier fand ich über ein Buchungsportal auch ein kleines Apartment in einem Gästehaus.
Zunächst aber wollen wir zur Wartburg. Der Weg hinauf zur Burg bedeutet für uns, einen Umweg zu machen, so dass sich unser Tagespensum auf etwa 36 Kilometer erhöht. Da ist frühes Aufstehen angesagt. Wir können jedoch auf ein gutes Frühstück hoffen, denn der Hausleiter Herr Wolter ist so nett und hat seinen täglichen Weg vom gegenüber liegenden Berg hinunter in die Stadt und dann hoch zum Neulandhaus etwas früher angetreten und nun liegen frische Brötchen vor uns auf dem Tisch. Gern hinterlassen wir dafür eine zusätzliche Spende. Frisch gestärkt machen wir uns gegen 7.30 Uhr auf den Weg. Weit müssen wir nicht gehen, um die Stadt zu verlassen, denn das Neulandhaus liegt direkt am Waldrand und auch direkt am Weg zur Wartburg.
Diese erblicken wir dann auch wenig später über eine Lichtung hinweg. Schon nach etwa 2 Kilometern haben wir die Eselstation erreicht. Von hier kann man für den beschwerlichen und steilen Weg zur Burg auf einem Langohr Platz nehmen und nach oben reiten. Das wäre sicher eine lustige Option gewesen, unser Tagespensum zu verkürzen. Ja, wenn die Esel schon ausgeschlafen hätten! So herrscht hier und am großen Parkplatz an der Wartburgschleife aber noch Ruhe, was sicher auch ganz gut so ist. So stapfen wir also den gleichen Weg, den sonst die Esel nehmen nach oben.
Hin und wieder lugt ein Teil der Burg durch das Blätterdach hindurch und man sieht, wie weit wir noch klettern müssen. Dann stehen wir vor ihr und sehen sie in der Schokoladenansicht, wie man sie von vielen Fotos kennt. Nur, dass sie für uns noch verschlossen ist. Eine Barriere versperrt uns den Weg in den Burghof. Schade, wir wollten zwar nicht ins Museum aber mal auf den Burghof zu gehen, wäre nicht schlecht gewesen. Um diese Tageszeit verirren sich sicher sehr wenige Touristen hier hoch. Nur eine Schwedin mit Fotoausrüstung hält die gleichen Motive wie ich auf ihrer Kamera fest. Ohne viel Zeit zu verlieren, steigen wir dann wieder hinab und sind unten etwas unschlüssig, wie wir weiter gehen sollen. So richtig eindeutig ist die Beschilderung hier nicht. Wir müssen zur “Wilden Sau”, einer Weggabelung, an der wir auf den Rennsteig treffen müssten. Also gehen wir zurück zum Parkplatz. Da müssen doch Schilder sein.
Zur Sicherheit frage ich dann noch einen Straßenarbeiter, der uns über den Weg läuft, nach der Richtung. Und so nehmen wir einen Weg, der wahrscheinlich sonst nicht so oft begangen wird. Er führt nicht links der Burg die Serpentinen hinunter direkt zur Sängerwiese, sondern rechts herum auf einem schmalen verschlungenen Pfad am Fuße des Burgbergs entlang zum Mariental. Am Weg durch den dichten Buchenwald befinden sich einige Felsklüfte und auch eine lange aus Knüppeln angelegte Treppe müssen wir erklimmen. Sicher ist das wieder ein Umweg, aber ein sehr schöner. Und er führt uns ebenfalls zur Sängerwiese, wie wir später feststellen.
Der Name “Sängerwiese” entstand im 19. Jahrhundert. Fälschlicherweise dachte ich bei diesem Namen zuerst an Walter von der Vogelweide und an den Sängerwettstreit auf der Wartburg. Den Namen erhielt dieser Platz aber von dem das hintere Mariental (da waren wir gerader hindurch gewandert) überragenden Felsen namens “Sängerstein”. Ein Sängerwettstreit, der am 24. August 1847 hier stattgefunden hat, war überregional so bedeutend, dass zu Ehren des Festes der Fels diesen Namen bekam. Früher hieß dieser Platz, an dem sich nun der historische Waldgasthof “Sängerwiese” befindet “die Scheide”, sicher weil sich hier mehrere Wege treffen. Wir nehmen den Weg zur “Hohen Sonne”, einer weiteren markanten Wegkreuzung mit Ausflugslokal. Hier und da sehen wir immer noch Muschelzeichen am Weg, obwohl berichtet wird, dass Rennsteig – Enthusiasten diese immer wieder entfernen. Ob es Gründe dafür gibt? Ich weiß es nicht, kann mir aber denken, dass ein paar “Verwirrte” keinen anderen als IHREN Weg hier zulassen wollen. Ob der Rennsteig Verein dahinter steckt? Ich weiß es auch nicht. “Überlebt” haben die Angriffe der Schilderstürmer nur die Zeichen, die mittels Farbe auf Bäume oder Masten aufgebracht worden sind.
An der “Wilden Sau” treffen wir wieder auf ein Sühnekreuz. Dargestellt ist ein auf einem Wildschwein sitzender Jäger und sein Gefährte mit einem Speer in der Hand. Es wird angenommen, dass dieser beim Versuch seinen Jagdkameraden aus seiner Lage zu befreien, nicht die Sau, sondern ihn erwischte. Mir gefällt aber eine andere Geschichte fast besser: Ein Mann erwischt seine Ehefrau beim Ehebruch und ersticht den Nebenbuhler, der vom Steinmetz symbolisch auf einer Sau reitend dargestellt wurde. Egal – fakt ist, dass im Ergebnis ein Sühnekreuz im Geburtsjahr Martin Luthers 1483 hier aufgestellt wurde. Es ist übrigens das älteste am Rennsteig. Wir legen hier eine Rast ein, studieren die aufgestellte Infotafel und genießen den schönen Ausblick auf die Wartburg, die nun schon einige Kilometer hinter uns liegt.
Unterhalb der kleinen Anhöhe gabelt sich dann der Weg, der nach rechts für Pilger als ökumenischer Pilgerweg nach Vacha führt oder für Wanderer zum Ursprung des Rennsteiges nach Hörschel. Wir biegen aber nach links ab in Richtung “Hohe Sonne”. Es geht sanft auf und ab, mit eindeutiger Tendenz nach oben. Fast unmerklich gewinnen wir an Höhe und treffen nach etwa 10 Kilometern auf die Wegkreuzung “Hohe Sonne“.
Hier befindet sich das alte Jagdschloss des Eisenacher Herzogs Ernst August des Ersten, das aber seit den achtziger Jahren als Ruine dahin bröckelt. 2012 soll sich wohl nun ein niederländischer Investor gefunden haben, der den Verfall stoppen und hier sanieren will. Außer dem Schloss gibt es nur noch einen kleinen Imbiss, in dem wir einen Kaffee trinken und wegen der Nähe zur Bundesstraße B19 einen Parkplatz. Da zu DDR – Zeiten die Grenzgebiete nur mit Passierscheinen zu betreten waren, begannen damals hier fast alle Rennsteigwanderungen und der traditionsreiche Gutsmuths Rennsteiglauf. Dieser findet auch heute noch unter großer Beteiligung statt. An der “Hohen Sonne” erhaschen wir einen letzten Blick zur Wartburg, bevor wir weiter wandern. Von hier an geht es dann etwas kontinuierlicher bergauf. Hin und wieder trefen wir auf Wanderer und einige wissen um die Bedeutung der Muschel, die an unseren Rucksäcken baumelt und sie sprechen uns daraufhin an. Das übliche “woher” und “wohin” wird ausgetauscht und wenn wir dann sagen, wo wir vor anderthalb Wochen aufgebrochen sind, blickt man in erstaunte Augen. Insgesamt sind aber nur wenige Wanderer unterwegs. In der Nähe der Rastplätze an den Straßen, die über den Gebirgskamm führen, sind mehr Menschen auf dem Weg. Die “Rucksack – Träger”, die augenscheinlich länger unterwegs sein wollen, sind eindeutig in der Minderzahl. Und so sind wir wieder recht einsam auf dem Weg. Der Rennsteig bietet auf diesem Wegabschnitt wenig Abwechslung. Es geht durch scheinbar endlose Wälder in Richtung “Ruhlaer Häuschen”.
Der nächste Punkt, den wir laut Wegweiser ansteuern, ist der “Dreiherrenstein“. So genannte Dreiherrensteine wurden seit dem 16. Jahrhundert überall dort aufgestellt, wo drei politische Hoheitsgebiete aufeinander trafen. Hier in dem Fall waren das Hessen, Henneberg und Sachsen – Meiningen. Insgesamt wurden im Verlauf des Rennsteiges dreizehn Dreiherrensteine ermittelt. Davon sind neun Stück noch vorhanden. Die Gaststätte am Dreiherrenstein ist leider geschlossen, macht jedenfalls keinen geöffneten Eindruck, so dass wir auch in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit zügig weiter laufen. Immer noch geht es aufwärts. Kein Wunder, sind wir doch bereits im Aufstieg zum großen Inselsberg, Thüringens meist besuchten 916 Meter hohen Berg mit fantastischer Aussicht. Ja und diese Aussicht scheint uns nun so langsam abhanden zu kommen. Denn es zieht sich langsam zu und der Wetterbericht sagt uns heute noch etwas Regen voraus. Vor dem Inselsberg lauert noch ein recht steiler und schweißtreibender Anstieg, übrigens der anstrengendste auf dem gesamten Weg.
Von einer Felsgruppe auf dem oberen Beerberg haben wir dann die letzte Aussicht des Tages, wenn auch schon etwas diesig. Wir sehen hinüber nach Gotha und die Hörselberge, auf die Orte, von wo aus wir vor zwei Tagen ehrfurchtsvoll auf den Inselsberg blickten und ich schon überlegte, ob es da nicht einen Weg drum herum gibt. Nun sind wir bereits kurz vor dem Gipfel und wie immer habe ich mich wieder mal umsonst verrückt gemacht. Noch eine kleine Anstrengung und wir sehen den Sendemast auf dem Gipfelplateau vor uns. Dass über den Inselsberg einst die Grenze zweier Herzogtümer (Hessen und Sachsen – Meiningen) verlief, ist heute noch durch das Vorhandensein zweier Gasthäuser nachvollziehbar. Auch die Nahe “Grenzwiese” verdeutlicht den Verlauf einer früheren Grenze. Der Inselsberg ist verkehrstechnisch gut erreichbar. Hier hinauf führt eine Landstraße und es gibt große Parkplätze für Busse und PKW.
Wie bereits bemerkt, ist der Inselsberg bei Ausflüglern sehr beliebt. Das liegt auch daran, dass er vulkanischen Ursprungs ist und die umliegenden Berge weit überragt. Die Aussicht reicht bei guter Fernsicht von der Wasserkuppe in der Rhön bis zum Brocken im Harz, von der Wartburg bis zum Ettersberg bei Weimar (aber eben nur bei guter Fernsicht). Wir können nun kaum noch 200 Meter weit sehen, denn pünktlich nach dem wir uns im Berggasthof Stohr gestärkt haben und wir bereits wieder auf dem Abstieg sind, beginnt es heftig zu regnen. So heftig, dass wir die im Rucksack bereits ganz weit unten angekommene Regenkleidung erstmals auf unserer Tour auspacken müssen. Auch der Rucksack bekommt seinen Regenschutz, haben wir doch morgen noch eine Etappe von etwa 26 Kilometer vor uns, auf der wir gerne wieder trockene Sachen anziehen würden.
Mürrisch, des Wetters wegen beschleunigt ich meinen Schritt, um dem Regen so zeitig wie möglich zu entrinnen. Doch noch ist es weit bis Freidrichroda. Die Kleinstadt liegt mehr als 4 Kilometer abseits des Rennsteiges und rund 400 Meter tiefer als dieser. Noch sind wir nicht am Anzweig nach Friedrichroda, das eines von fünf staatlich anerkannten Luftkurorte in Thüringen ist. Der Untergrund weicht immer mehr auf, so dass die Füße immer schwerer werden. Am Abzweig nach Friedrichroda sind es dann nur noch 4 Kilometer! Doch diese 4 Kilometer haben es in sich, denn wir müssen, nachdem es vorbei am Ausflugsrestaurant “zur Tanzbuche” auf den ersten 1,5 Kilometern recht eben war, auf der restlichen Strecke ganze 400 Höhenmeter nach unten steigen. Und mit dem Wort “steigen” übertreibe ich keinesfalls. Die Oberschenkel beginnen zu brennen und der Weg wird immer glitschiger. Weit über eine Stunde benötigen wir noch vom Abzweig bis in den Ort und Andrea macht ihrer Befürchtung Luft, dass wir kein Zimmer mehr bekommen könnten, weil es bereits auf 19 Uhr zu geht. Dann sind endlich die ersten Häuser der Stadt zu sehen. Hektisch suchen wir nach der Adresse, die aber erst durch die Auskunft von Passanten zu finden ist. Die Hausherrin begrüßt uns herzlich und führt uns, nachdem wir die verschlammten Wanderschuhe ausgezogen und die Stöcke in die Ecke gestellt haben, in unseren nass triefenden Sachen nach oben.
Das Zimmer, in das wir nun eintreten, hat den Charme einer FDGB Ferienunterkunft. Die Möbel stammen eindeutig und augenscheinlich aus den späten sechziger Jahren. Eine transportable Duschkabine fällt uns wegen ihres exotischen Anblickes sofort auf. Das Relikt aus DDR Zeiten mit integriertem Warmwasserboiler steht in einer Ecke des Raumes und um sie herum sind Reste von Auslegware oder Teppiche gelegt. Es sieht alles doch recht provisorisch aus, alles wie früher. Da gab es viele solcher Unterkünfte in der ehemaligen DDR, die über den FDGB (für die Leser aus den gebrauchten Bundesländern: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Einheitsgewerkschaft in der DDR) vermittelt wurden. Da wurde eben das hinein gestellt, was sonst nicht mehr benötigt wurde und heute sicher auf dem Sperrmüll landen würde. Ich möchte hier keinesfalls nörgeln, hatten wir doch für diese Unterkunft für zwei Personen nur 42 Euro inklusive Abendessen und Frühstück bezahlt. Außerdem sind wir als Pilger an einiges gewohnt und haben Genügsamkeit über viele hundert Kilometer gelernt.