Der Tag der Abreise war endlich gekommen. Zum vierten Mal begaben wir uns auf Pilgerreise, eigentlich fast Routine. Und doch ist alles ganz anders. Die Rucksäcke (zumindest meiner) sind schwerer und größer, da die Campingausrüstung mit sollte, wir haben einen zusätzlichen Koffer für “Alltagskleidung” mit, wir fahren mit dem Auto und es geht nach Norden. Sonst ist aber alles wie gewohnt. Alles wird noch einmal auf Notwendigkeit getestet, um eventuell doch noch an Gewicht zu sparen. Doch es half nichts, Andreas Rucksack wog sieben und meiner stolze 11 kg (mit Wasser). Das sind Lasten, die wir bisher nicht auf dem Rücken hatten. Nun gut, der Weg ist nicht so lang und nicht so bergig, so dachten wir. Das mit der Länge stimmte, denn wir wollten schon in 11 Tagen am Ziel sein. Aber mit dem Geländeprofil sollten wir uns gründlich getäuscht haben. Denn stellenweise kamen wir uns vor wie im Mittelgebirge.
So saßen wir bereits sieben Uhr in unserem Volvo und sausten über die A9 in Richtung Berlin. Ohne Staus oder Behinderungen ging es zügig voran. Auch auf dem Berliner Ring gab es keine Hindernisse. Erst auf der B96 ging es dann etwas schleppender voran. Aber damit konnten wir rechnen, denn das war auch zu DDR Zeiten so, als sich in der Urlaubszeit hunderte von Trabbis und Wartburgs schwer beladen gen Ostsee durch Oranienburg oder Anklam über holperige Straßen schleppten. Und genau so kannten wir bisher Mecklenburg, von der Durchfahrt in Richtung Ostsee. Nun wollten wir es ganz direkt und unmittelbar kennen lernen. Und waren gespannt darauf. Spannend wurde es, als wir Fürstenberg durchquerten. Hier wollten wir in ein paar Tagen sein, zu Fuß. Und die vielen Kilometer, die wir noch bis Neubrandenburg fuhren, ließ uns unseren Fußmarsch etwas eindringlicher erscheinen. Die Gewissheit, dass der Pilgerweg nicht über die kürzesten Verbindungen von Ort zu Ort führt, flößten mir Respekt ein. So unmittelbar erfährt man diesen Vergleich nicht, wenn man mit dem Flugzeug anreist oder zu Hause startet. Da verzerrt sich leicht das Gefühl für Entfernungen.
Also nutzten wir die Zeit, um uns die uns beiden unbekannte Stadt der vier Tore anzusehen. Was die imposante historische Stadtmauer mit seinen schönen Backsteintoren und den eingelassenen Wiekhäusern im Fachwerkstil verspricht, kann die Innenstadt leider nicht ganz halten. Neubrandenburg wurde in den letzten Kriegstagen bei einem Brand nach alliierten Bombenangriffen fast vollständig zerstört. Nur noch ein Straßenzug ist noch so wie vor dem Krieg bebaut. Und so sieht man, dass Neubrandenburg einen eher kleinstädtischen Charakter hat. Das ist trotz des hässlichen Hochhausturmes, der gerade entkernt und restauriert wird, der vielen neo sozialistischen Bauten im Stalin – Stil der 50er Jahre und den großen Plattenbausiedlungen am Stadtrand heute nicht viel anders. Neubrandenburg war zu DDR Zeiten Bezirksstadt, was heute schwer vorstellbar ist. Nur der Hochhausturm kündet noch davon. Unter Ulbricht musste jede Bezirksstadt ein Hochhaus bekommen und so wirkt dieser Klotz doch reichlich fehl platziert in dieser Stadt, die sonst aber durchaus ihren Charme hat. Die meisten Häuser befinden sich in einem sehr guten Zustand. Einige geschmackvolle Neubauten wurden in die Häuserzeilen eingefügt. Doch auch vor mancher nachwendischen Bausünde blieb diese Stadt nicht verschont. Fast alles erstrahlt aber wieder in frischen Farben und die Fußgängerzone wird von vielen Bewohnern und Touristen zum flanieren genutzt. Schade finde ich, dass gerade an der Stadtmauer, die sehr fotogen die gesamte Altstadt umschließt, auf der gegenüberliegenden Seite oft hässliche Baracken oder Garagen in sehr schlechtem Zustand die Ansicht verschandeln. Und dort wo neu gebaut wurde, sind manchmal die architektonischen Gegensätze für meine Augen zu krass. Kubische hochmoderne Formen stehen für mich in einem zu großen Gegensatz zur historischen Stadtmauer und den Wiekhäusern. Im Nordwesten der Altstadt ist ein großer Platz für eine Neubebauung frei geräumt worden. Na mal sehen, was sich da die Städteplaner einfallen lassen. Zu wünschen wäre es der Stadt, dass der kleinstädtische Charakter gewahrt bleibt.
Und so hatte ich oft meine liebe Mühe, für´s Auge harmonische Motive zu finden. Ein Problem, das selbst Profis hatten, wenn man sich mal die meisten Ansichtskarten von Neubrandenburg ansieht, auf denen sehr oft die Wiekhäuser zu sehen sind. Nun möchte ich die Stadt nicht schlechter machen, als sie ist. Der grüne Streifen, der die Altstadt umschließt und die Nähe zum Tollensesee mit seinen vielfältigen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung machen die Stadt sicher zu einer sehr angenehmen Wohngegend.
Ein Muss in der Innenstadt ist der Besuch der Konzertkirche. Als Marienkirche vor 700 Jahren gebaut, durchlebte sie eine aufregende Geschichte. Das ehemalige Gotteshaus im Stil der Backsteingotik ist mehrmals ausgebrannt und wurde im 2. Weltkrieg fast vollständig zerstört. Nur die Außenmauern und Teile des Turmes standen noch. Ein Wunder, dass die Reste der Kirche in den Jahren der DDR nicht beseitigt wurden. Im Gegenteil, die Evangelisch – Lutherische Landeskirche Mecklenburgs, die Stadt und der Bezirk Neubrandenburg schlossen bereits 1975 einen Vertrag zum Wiederaufbau der Kirche und deren Umgestaltung zu einem Konzertsaal und einer Kunstausstellung. Das rettete wahrscheinlich dieses heute wieder imposante Bauwerk. 1989 wurde dieser Vertrag erneuert, natürlich unter neuen politischen Rahmenbedingungen. Doch erst ab 1997 konnte der Wiederaufbau und der Umbau nach Plänen des finnischen Star – Architekten Prof. Pekka Salminen beginnen. Das Ergebnis ist beeindruckend. Das Gebäude hat zwar leider seine sakrale Bestimmung verloren, die spirituelle Wirkung aber erhalten. Ich denke nur so konnte zur Zeit der DDR dieses Baukunstwerk vor dem totalen Verfall oder dem Abriss bewahrt und die Möglichkeit erhalten werden, es wieder aufzubauen. Die Politischen Verhältnisse sorgten dafür, dass viele solcher verfallenen oder zerstörten Gotteshäuser konnten diesem Schicksal leider nicht entgehen und sie gingen unwiederbringlich verloren. Manche standen auch nur im Weg, räumlich oder politisch.
Wir fanden den Konzertsaal offen vor. Während der Proben ist eine Besichtigung nämlich nicht möglich. Erstaunt standen wir im riesigen Saal und ich war beeindruckt, wie es gelungen ist, dieses moderne Konzerthaus zu integrieren, ohne den eigentlichen sakralen Charakter des Raumes vollends zu zerstören.
Im Glockenturm befindet sich eine Ausstellung zur Marienkirche und zur Backsteingotik in Norddeutschland. Erreichbar ist das ganze auch für weniger sportliche über einen Fahrstuhl. Nur wer ganz nach oben auf die Aussichtsplattform will, muss noch einige Etagen klettern. Zuvor sollte man jedoch unten ein paar Ohrstöpsel mitnehmen, denn man geht direkt am Glockenstuhl entlang. Es wird aber über eine Lautsprecheranlage gewarnt, bevor die Glocken viertelstündig ertönen. So kann man noch rechtzeitig die Finger in die Ohren stecken. Oben auf der Plattform hat man eine herrliche Aussicht auf die Stadt und die Umgebung. Bevor man auf dieser heraus tritt, kann man schon in einer Multimedia Visualisation erklärt bekommen, was man draußen sehen wird.
Schnell verging die Zeit in der Stadt, in der wir natürlich auch nach den Zeichen des Pilgerweges, der Muschel auf einer Welle suchten. Fündig wurden wir erstmals am Friedländer Tor. Noch außerhalb der Stadtmauern führt der Weg zum Fangelturm, um von dort am Franziskanerkloser und der Johanniskirche vorbei in die Stadt zu führen. Doch das war es dann auch schon. Denn die Stelle, wo sich der Weg in den westlichen und östlichen Zweig teilt ist leider nicht gekennzeichnet. Hinter dem Neuen Tor, am Abzweig Ziegelbergstraße dann wieder eine Muschel, die in diese Straße verweist. So richtig schlüssig ist diese Kennzeichnung aber nicht. Das bestätigte uns dann auch Krümel, der seine Stadt natürlich viel besser kennt. Eine durchgängige Kennzeichnung aus der Stadt heraus ins Lindetal zum östlichen Zweig oder zum Westufer des Tollensesees zum westlichen Zweig ist nicht vorhanden. Da könnte etwas nachgebessert werden.
Nach einem Kaffee gingen wir noch zum Tollensesee. Und nicht ohne Stolz zeigte uns Stephan die Schokoladenseite seiner Heimatstadt, die Parkanlagen am Tollensesee mit der Schiffsanlegestelle und der Oberbachbrücke. So eine Stadt am See hat irgend was. Es macht sich eine gewisse Entspanntheit in einem breit, wenn man am Wasser entlang flanieren kann und viele andere sieht, die es einem gleich tun. Wassersport und Wassertourismus spielt hier wie in der gesamten Gegend natürlich eine große Rolle. Dicht gedrängt stehen die bunten Bootshäuser an den Flussarmen der Tollense. Genau hier wollten wir in 11 Tagen wieder ankommen, voller neuer Eindrücke und einigen Kilometern Strecke in den Beinen. Da fällt mir ein, dass ich dieses Mal noch gar nicht ausgerechnet habe, wie viele es wirklich am Ende waren. Der Weg ist das Ziel. Noch nie wurde mir dies auf einem Pilgerweg so bewusst wie hier.
Na hoffentlich kommen wir da hinterher mit unseren kurzen Beinen !!