Und so herrscht auch an diesem Morgen vorwiegend Stille auf dem Weg zum Bahnhof. Wir reden eh nicht viel, wenn wir zu Fuß unterwegs sind. Da hat jeder mit sich selbst zu tun, mit seinen Gedanken, seinen Gefühlen und natürlich seinen Wehwehchen. Das Haus ist verschlossen. Um die Blumen kümmert sich die Schwiegermutter. Und der Hund ist versorgt (wohnt so lange bei unserem Sohn in Halle). Die Bahntickets sind im Brustbeutel verstaut und unsere erste Unterkunft in Falkenau ist sicher. Nun muss nur noch die Bahn pünktlich sein.
Na auf der ersten Strecke klappt das schon mal. Mit unserem Sachsenticket für ganze 26 Euro steigen wir in die überpünktliche Regionalbahn nach Leipzig ein. Verstohlen blickt die dicke Frau, die uns gegenüber sitzt, immer mal zu uns herüber und es scheint, als würde jeder Blick mehr Erstaunen in ihr hinterlassen. Unser Outfit und unsere prallen Rucksäcke sind wahrscheinlich nicht alltäglich auf dieser Strecke und um diese Zeit. Oder bilde ich mir das nur ein? In Leipzig haben wir 45 Minuten Zeit. Ich war wieder sehr großzügig bei der Planung der Umstiegszeiten. Eilt der Bahn doch ein nicht so guter Ruf voraus in Sachen Pünktlichkeit. Diese sollte mich jedoch auch bei dieser Tour angenehm überraschen.
Denn pünktlich mit unserem Eintreffen in Freiberg beginnt es leicht zu regnen. Nach einigen Irrungen in der zur Straße hin verschlossenen Bahnhofshalle, ist der Weg ins Stadtzentrum schnell gefunden. In der Nähe des Freiberger Dom treffen wir auf das erste Muschelzeichen. Der Dom und auch der Domladen, in dem wir uns eigentlich den ersten Stempel im Pilgerausweis erhoffen, öffnen erst 11:30 Uhr. Das ist eindeutig zu spät. Da wollen wir längst auf dem Weg sein. Gern hätte ich Andrea den wirklich beeindruckenden Dom gezeigt. Ich hatte ihn ja während unserer privaten Führung durch den Herrn Superintendenten Noth im vorigen Jahr mit Bruder Gustav zusammen bewundern dürfen. Bei Familie Noth ist anscheinend jemand zu Hause, da die Fenster offen stehen. Doch ich will so früh am Tag nicht stören. Im Nachhinein ärgere ich mich, nicht wenigstens guten Tag gesagt zu haben bei unserer netten Gastgeberin vom Vorjahr.
Am Relief der Stadt Freiberg vor dem Schloss Freudenstein stehend, wird ein Man auf uns aufmerksam und fragt uns, ob wir uns schon alles angesehen haben. Wie auch, wenn alles noch geschlossen ist und dann auch noch bei diesem Wetter (es regnet schon wieder!). Er wäre der dienstälteste Domführer sagt er nicht ohne Stolz. Worauf ich ihm berichte, dass ich den Dom bereits gesehen habe, eben während des Rundhganges mit Herrn Noth im vorigen Herbst. Herrn Noth kennt er natürlich auch und ich lasse ihm beste Grüße bestellen, auch um mein schlechtes Gewissen etwas zu beruhigen. Falls er es nicht getan hat, hole ich es hier nach, denn ich bin mir sicher, dass Frau Noth diese Zeilen hier liest….
Aus Freiberg heraus geht es immer leicht ansteigend in Richtung Stadtwald. Und wir sind froh, das triste Grau, in dem die Stadt bei diesem Wetter erscheint, nun gegen das satte Grün des Waldes zu tauschen. Unterwegs ein prüfender Blick auf das Wegzeichen, welches Gustav und ich angebracht hatten – ja – ist noch dran. Zur ersten Rast in Kleinschirma werden wir vom wieder stärker werdenden Regen ins Buswartehäuschen getrieben. Ich hatte unsere Jacken und Hosen mit Imprägnierspray behandelt, sogar mit Nanoeffekt, wie mir der Fachverkäufer zusicherte. Pha! Nanoeffekt! Das ich nicht lache! Die Jacke ist schon durch, trotz Hightech – Membran und Imprägnierung. Ich denke mittlerweile, dass es eine billige Plastik – Jacke auch tun würde. Atmungsaktivität hin oder her. Ich schwitze in dieser Northface – Jacke genau so wie in einer Plastikpelle. Ist doch einleuchtend, wenn die Jacke nass ist, macht die Membran dicht. Da atmet nichts mehr und wenn der Stoff vielleicht auch dicht bleibt, wird man in seinem eigenen Schweiß gebadet. Was soll das also? Da heißt es nur Augen zu und durch. Es ist wenigstens einigermaßen Windstill, so dass ich meinen kleinen leichten Schirm nutzen kann. Der hält nicht nur den Kopf trocken, sondern auch meine Kamera. Weswegen ich auch bei diesem Sauwetter Fotos machen und Videos aufnehmen kann, wenn auch nicht so viele wie sonst üblich. Ist wirklich praktisch der kleine Schirm. Und ich kann ihn hinter dem Brustgurt einklemmen und habe so die Hände frei. Bei stärkerem Wind funktioniert das natürlich nicht mehr, darüber bin ich mir im Klaren.
In Richtung Oberschöna geht es nun über einen schlammigen, fast zu gewachsenen Feldweg. Das ist die neue Wegführung gleich nach dem man die B173 überquert hat. Zur Nässe von ober kommt nun auch noch die von unten dazu. Denn das hohe nasse Gras schlägt unablässig gegen die Hosenbeine. Und auch dort versagt die Nano – Technologie nach kurzer Zeit kläglich. Im Dunst des Nieselregens taucht bald Oberschönau auf. Und auch hier nutzen wir das kleine Buswartehäuschen, um uns kurz unterzustellen bzw. zu -setzen. Alle anderen Sitzgelegenheiten sind an diesem Tag nicht zu gebrauchen, da man sich dann zusätzlich noch nen nassen Hintern holt. Ich brauche viele Pausen heute. Mein Körper hat noch nicht in den Pilgermodus umgeschaltet. Die Beine sind schwer und die richtige Position des Rucksacks ist auch noch nicht gefunden. Ich habe wieder meinen alten Deuter genommen. Der musste auch mal wieder raus. 🙂
Hinter Oberschöna geht es den Oberreichenbacher Bach entlang durch ein schönes Tal, zwar tropfnass aber idyllisch. Trotz meiner körperlichen Beschwerden (ich denke es stellt sich bereits ein Muskelkater ein) kommt mir heute alles viel kürzer vor, als beim ersten mal. Auch Kirchdorf, das ich als elend langes Straßendorf in Erinnerung habe, ist heute halb so lang. Die Bank, die ich im vorigen Jahr noch mit Gustav zu einem Picknick genutzt habe, müssen wir leider links liegen lassen – alles nass. Eigentlich wollte ich doch noch eine Alumatte einpacken….? Doch wenige Schritte später bietet sich wieder ein Buswartehäuschen als Picknickplatz an. So richtigen Hunger habe ich eigentlich nicht. Ein Müsliriegel und ein Traubenzuckerdrops reichen mir. Ich will auch endlich aus den nassen Klamotten raus und dränge zum Aufbruch.
Wir trotten nun also durch den Stadtpark von Oederan, vorbei am kleinen Erzgebirge, welches trotz des Mistwetters doch tatsächlich einige Besucher hat, in Richtung Marktplatz, den die Stadtkirche “Zu unseren lieben Frauen” weit überragt. Der barocke Turmaufbau aus dem 18. Jahrhundert ist 63 Meter hoch und bildet das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Etwas besonderes verbirgt die Kirche auch im Inneren, eine Silbermannorgel. Sie ist zwar nicht mehr ganz im Original erhalten aber die Klänge, die nach draußen dringen machen neugierig. Wir schleichen die vielen Türklinken drückend um den massigen Bau, wie die Katze um den heißen Brei, bis wir endlich eine offene Tür finden.
Am Hauptportal hatten wir eben ein Plakat entdeckt, auf dem ein Orgelkonzert für den heutigen Nachmittag angekündigt ist. Und nun scheint der Organist bereits zu üben und haut die Tasten in allen Manualen. Der Raum ist erfüllt von den Klängen des Instrumentes, welches hinter mir auf der Empore steht, als ich auf den Altar zu gehe. Ich zücke meinen Fotoapparat drücke die Videotaste und lassen die Aufnahmefunktion für meine Verhältnisse ungewöhnlich lange in der Hoffnung in Betrieb, dass der unsichtbare Künstler noch recht lange spielt. Das tut er und wir können uns die Kirche gefüllt mit Silbermannklängen in Ruhe ansehen. Danach lassen wir das massive Türschloss leise wieder hinter uns zuschnappen, während von drinnen immer noch die Orgel zu hören ist. Noch ein paar Fotos und schon sind wir dabei, die Stadt zu verlassen. Na es hat wenigstens aufgehört zu regnen. Die Sicht ist aber immer noch gleich Null, stelle ich hinter Oederan fest. Auch hier hätte man eigentlich von einer Anhöhe einen schönen Blick zur Augustusburg.
Nur noch ein Stück und wir sind in Falkenau. Das begrüßt uns mit einer Holzarbeit in einem Garten zum Thema Jakobsweg. Allen Pilgern wird auf ihrem weiteren Weg alles gute gewünscht und es seien noch 3051 Kilometer bis Santiago. Diese Kilometerangaben sollte man jedoch nicht so ernst nehmen und sie variieren recht stark. Denn es gibt eben sehr viele und verschlungene Wege nach Santiago. Unserer hält so kurz vor unserem heutigen Ziel nun noch eine Überraschung parat, eine sehr, sehr lange Treppe hinunter zur Flöha. Schritt für Schritt tappen wir auf ihr herunter – ja, es ist ein Muskelkater, der mich peinigt. Da bin ich mir nun ganz sicher.
Der Jakobsweg führt nun eigentlich hinüber zum anderen Ufer der Flöha. Wir bleiben aber auf dieser Seite, gehen nicht über die alte steinerne Brücke, sondern noch etwa 2 Kilometer die alte Dorfstraße entlang, bis wir den Ferienhof Falkenau erreichen, ein leuchtend gelb angestrichener zweistöckiger Bau, der kaum zu übersehen ist. Wir gehen hinein, an einer Art Tresen vorbei – niemand zu sehen. Erst auf dem Hof, der voll gestellt ist mit Tischen, Bänken und Schirmen, sitzen einige Leute, von denen eine Frau auf uns zu kommt mit den Worten “Ach die Pilger!”. Es ist die Inhaberin Frau May, die uns herzlich begrüßt.
Sie zeigt uns unser Zimmer im ersten Stock und wir packen erst mal die Rucksäcke aus, um nachzusehen, ob alles trocken geblieben ist. Unsere Schlafsäcke brauchen wir hier nicht. Die Betten sind frisch bezogen. Toiletten und Duschen sind auf der Etage, die wir am heutigen Abend aber mit einer Schulanfangsfeiergesellschaft teilen müssen. “Das könnte etwas laut werden.” meint Frau May. “Sie haben noch nicht mit 50 anderen Pilgern in einem Raum geschlafen?” entgegne ich. “Da ist man einiges gewöhnt. Wenn man richtig kaputt ist, stört das nicht.” Nach dem duschen gehen wir runter auf den Hof, um unser mitgebrachtes Abendessen zu verzehren. Viel ist es nicht, ein paar Klopse von zu Hause, etwas Käse und die platt gedrückten Semmeln aus Freiberg. Bei Frau May erstehe ich noch zwei Flaschen Bier. Und so ist der Tag dann doch noch schön geworden.
Auf dem Hof herrscht ein mächtiges Gewusel. Morgen soll ein Kartoffelfest steigen, mit allerlei Aktionen vor allem für Kinder. Alles ist sehr schön dekoriert mit Herbstblumen und vor allem mit bunten Kürbissen. Einige Exemplare sind sehr imposant. Es werden säckeweise Kartoffeln ran gekarrt und Frau May erzählt, etwas von “Klitschern”, die gebacken werden sollen. (Für nicht Sachsen: Dor Glitschor is e Gardofflbuffor.) Na hoffentlich macht das Wetter keinen Strich durch die Rechnung und die viele Mühe ist nicht umsonst. Oben im Zimmer packe ich zu Andrea`s großer Überraschung meinen kleinen Reisetauchsieder aus. Dem habe ich einen anderen Stecker und ein kürzeres Anschlusskabel verpasst, um Platz und Gewicht zu sparen.
Und so hat Andrea auch noch ihren Kaffee. Der Abend ist gerettet! Bald höre ich wie man sich bei der Schulanfangsfeiergesellschaft verabschiedet und mit jeder Verabschiedung wird es leiser auf dem Gang. Auf die Uhr habe ich nicht gesehen. Aber weit vor Mitternacht finden wir in den Schlaf. Ist doch etwas lauter als gedacht, wenn einige Kinder auf dem Gang Hasche spielen. Aber warum sich drüber aufregen? Wir sind pilgern. Da sieht man über einiges hinweg und ist mit dem zufrieden, was man vorfindet.