Gut haben wir geschlafen unter dem Jungfernreigen im Goldrahmen. Um halb Acht gab es Frühstück – und was für eins. Frau Kämig hat den ganzen Tisch voll gestellt mit Sachen, die ein Pilger in Selbstverpflegung sonst seltener zu Gesicht bekommt.
“Wer soll das alles essen?” fragte ich. Und schon machte ich mich über die gekochten Eier her. Zwei Semmeln wanderten dann noch in den Rucksack. Die Kämigs mögen es nachsehen. Noch ein kurzes Schwätzchen mit der Chefin, die uns dann noch die Pilgerstempel in den Pilgerpass drückte. Und schon standen wir wieder um 8 Uhr auf der Straße. Diese Herberge können wir vorbehaltlos empfehlen, waren wir uns einig.
Hier der Weg, wie wir ihn wirklich gelaufen sind. Der Link zum GPS Track der gesamten Ostvariante befindet sich unter dem Beitrag zur ersten Etappe.
Der Weg führt gut gekennzeichnet aus der Stadt heraus in Richtung Burgberg. So ein Burgberg gleich am Morgen ist gar nicht so mein Fall – vor allem nicht nach so einem Frühstück. Schnaufend setzte ich einen Fuß vor den anderen um mich nach oben zu wuchten. Mein Rucksack wollte eindeutig in die entgegen gesetzte Richtung. Ich hatte noch immer nicht die idealen Einstellungen gefunden. Die Last sollte in der Hüfte auf den Beckenknochen! Die muss man erst mal finden bei mir, von ner Hüfte ganz zu schweigen. Bei mir gibt´s nur zwei Alternativen, entweder über dem Bauch oder darunter. Ich entschied mich für darunter weil mein Bauch erst sehr weit oben aufhört. Und so stellte ich die Schultergurte so lang wie möglich ein, damit die Last wirklich auf den Hüftflossen des Rucksackes liegt. Dadurch schaukelte er etwas hin und her beim gehen. Ne Weile ging das ganz gut, dann bekam ich Kreuzschmerzen, die ich durch eine für mich untypisch hohe Pausenfrequenz bekämpfte. Andrea begann sich schon zu wundern.
Die Burg Stargard haben wir uns nur von Außen angesehen. Ich weiß auch gar nicht, ob sie schon offen war um diese Zeit. Außerdem war Samstag. Vielleicht beim nächsten Mal. Dann ging es endlich wieder etwas bergab. Man, das ist ja wie in Thüringen! Ein Mann kam uns nach und fragte neugierig, wo wir denn her kommen und wo wir hin wollen. Brav sagten wir das, was wir in diesen Fällen bisher immer geantwortet haben. Dass wir auf dem PWMSP (hab ich natürlich ausgesprochen) sind und am Donnerstag in Friedland gestartet sind. Und das wir heute noch bis Rödlin wollen und dann die kommenden Tage nach Fürstenberg und Mirow wollen, um dann entgegengesetzt des eigentlichen Wegverlaufes über Neustrelitz wieder zurück nach Neubrandenburg zu gelangen. Ob er uns so richtig geglaubt hat, blieb ungewiss. Denn er schaute etwas seltsam. Aber es sollte nicht die letzte Begegnung mit ihm sein.
Im anschließenden Waldstück vor Holldorf machten wir wieder mal Rast. und ich schaute hier nicht so glücklich aus, weil ich immer noch mit meinem Rucksack kämpfte. Andrea wollte mir was abnehmen -na so weit kommt´s noch! Ich sollte das Zelt zurück lassen in der nächsten Herberge und später mit dem Auto abholen. Nein! – meine trotzige Antwort. “Wir brauchen das noch”.
Hinter Holldorf geht es ausnahmsweise mal auf der Straße entlang. Und kurz vor Ballwitz quälte mich plötzlich ein dringendes menschliches Bedürfnis. Und es quälte mich wirklich sehr sehr dringend! Und wenn man mal einen braucht, ist eben kein Busch in der Nähe. Also ging ich etwas verkrampft durchs Dorf und erspähte eine Bank an einem Weiher. Wenn ich mich da ne Weile hinsetze, vielleicht vergeht´s wieder. Es verging nicht! Und dann eine Begebenheit, die man nur auf einem Pilgerweg erleben kann. Denn für jedes Problem kommt plötzlich wie aus dem Nichts eine Lösung daher.
Diese Lösung bestand im Pfarrhaus von Ballwitz, dessen Tür ganz weit offen stand. Das schickt der Himmel! dachte ich mir. Ohne an den tieferen Sinn der Redewendung zu denken. Eh es zu spät war, rannte ich ohne Rucksack und Stock zu der Tür. Eine Frau wischte gerade den Hausflur. “Oh je, jetzt komm ich auch noch ungelegen. Ist der Pastor da?” Und schon stand ich drin. Ich hatte es ja eilig, wollte aber nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Ich klopfte an der Bürotür und trat ohne auf Antwort zu warten ein. Herr Rudolph, so heißt der Pastor wie ich später erfuhr, war in ein Telefongespräch vertieft und bat mich, mal kurz draußen zu warten. Natürlich antwortete ich etwas zerknirscht. Kurze Zeit später bat er mich herein. Gleich setzte ich an mit meinen Erklärungen, wer und wo und warum…. “Moment bitte” und er räumte einen kleinen runden Tisch frei, an dem zwei Sessel standen. “Setzen wir uns doch erst einmal”. Na gut, dachte ich, besser ist es und höflich auch. Und die Schweißperlen standen mir wahrscheinlich schon auf der Stirn. Meine Erklärungen wiederholte ich in rasendem Tempo und kam dann endlich zum eigentlichen Grund meines Überfalls. “Natürlich haben wir hier eine Toilette”. Und er zeigte mir den Weg. In meiner Hektik übersah ich fast, dass die Klobürste im Becken stand. Was ich aber übersah, dass es an Papier fehlte. Zum Glück gab es noch eine Nachbarbox, in der welches war. Mann war ich erleichtert. Da wird so ein Tag gleich richtig entspannend.
Zurück zu Herrn Rudolph ging dieser noch mit uns zur Kirche und erzählte uns etwas aus der Geschichte dieser. Wie es z.B. zu dem modernen Taufbecken kam oder woher der Kronleuchter stammte. Zum Schluss legte er uns noch nahe, unbedingt die Kirche in Zachow zu besuchen. Und gab uns einige Tipps, wie wir an den Schlüssel kämen, falls sie verschlossen ist. Wir bedankten uns herzlich und machten uns wieder auf den Weg. Ein Sandweg führte uns dann nach Zachow, das nur 2,5 Kilometer weiter entfernt ist. Vorher jedoch noch eine Begegnung, die uns zum lachen brachte. Da kam doch tatsächlich der Herr, der uns am Morgen ausgefragt hatte, mit einem Tandem angefahren, hinten drauf seine Frau. Er grüßte mit wilden Handbewegungen und sie schaute uns ungläubig an. “Ich wette, seine Frau hat ihm nicht geglaubt und nun wollte er den Beweis antreten, dass da wirklich zwei Irre mit dem Rucksack zu Fuß nach Mirow wollen.” so meine Erklärung.
Sofort im Dorfbild fiel uns die kleine Kirche auf, ein rechteckiger Fachwerkbau mit einem hölzernen, pyramidenförmigen Glockenturm. Dieser Anblick war ebenso ungewöhnlich. Doch das Dorf sollte noch ungewöhnlicher werden und uns zum Staunen bringen. Gleich hinter der Kirche befindet sich die Pilgerherberge der Familie Rhode-Schäper, von der wir bereits wussten, dass an diesem Wochenende niemand zu Hause war. Gleich daneben noch ein schmuckes Eigenheim, aus dessen Tür eine Frau auf uns zu kam. Wir fragten nach dem Grundstück, dass uns Herr Rudolph wegen des Kirchenschlüssels genannt hatte. “Den Kirchenschlüssel? Den hab ich auch. Wollen Sie sich auch unsere Schmiede ansehen?”
Gern, sagten wir. Und schon verschwand sie wegen des Schlüssels, um mit uns wenig später zur Schmiede zu gehen. Die Schmiede war nie eine solche. Sie ist nur im Stil einer alten Dorfschmiede neu aufgebaut worden und beherbergt nun ein Dorfgemeinschaftshaus. Wir staunten nicht schlecht, als wir den Raum betraten. Nun muss man wissen, dass wir zu Hause in unserem Dorf, welches immerhin über 800 Einwohner hat, in einem Heimatverein aktiv sind, der seit Jahren um ein größeres Vereinshaus kämpft. Bei jeder Versammlung hoffen wir, dass nicht alle Mitglieder kommen. Aber seit wir in die große Kreisstadt Delitzsch eingemeindet worden sind, ist unser Ortsteil nur noch das fünfte Rad am Wagen und die Mittel werden nicht danach verteilt, wie viele Aktivitäten im Ortsteil es gibt, sondern schön gleichmäßig nach dem Prinzip Gießkanne. Auch wenn bei uns richtig was los ist, werden wir genau so behandelt wie ein Ortsteil, in dem “tote Hose” herrscht.
Nun mussten wir hier erfahren, dass in einem 68 Einwohner Dorf es möglich ist, dass fast die Hälfte der Einwohner in einem Kulturverein organisiert ist, der sich um die Kirche kümmert, vielfältige Kulturveranstaltungen organisiert und sowas wie die Schmiede aus dem Boden gestampft hat. Das fordert schon gehörigen Respekt ab. Im schön gestalteten Vereinshaus werden alte Schmiedewerkzeuge und Geräte, die in der Umgebung zusammen gesammelt wurden ausgestellt. Der Verein ZINNOBER Kulturkreis Zachow e.V., wie er offiziell heißt, hat ein proppe volles Jahresprogramm und wir kamen gerade recht, um uns eine Bilder- und Skulpturenausstellung der beiden Künstler Siegfried Besser und Anke Besser-Güth aus Sachsen anzusehen.
Die beiden unterstützen den Verein seit Jahren beim Kampf um die alte Kirche. Zu DDR Zeiten sollte das Dorf entvölkert werden. Unter dem Slogan “Stirbt die Kirche, stirbt das Dorf” richten sich nun alle Bemühungen, gleich ob christlich motiviert oder nicht, für den Erhalt des Dorfmittelpunktes. Im hölzernen Glockenturm sind Balken verbaut, die nachweisbar aus dem 15. Jahrhundert stammen. Und dieser Glockenturm ist baufällig, so dass die Glocke nicht mehr geläutet werden darf. Durch solche Veranstaltungen wie heute wird Geld gesammelt. Auch die Reemtsma Stiftung konnte als Geldgeber gewonnen werden. 50.000 Euro hat die Stiftung zugesagt.
Neuster Cup war ein Stand auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg. “Zachower Kirche auf Rädern – und alle ziehen mit” heißt es auf einem Flugblatt, mit dem die Zachower auf das Problem mit ihrer Kirche aufmerksam machen wollten, um weitere Mittel zu bekommen. Die Zeit drängt und dieses Kleinod muss erhalten werden. Es wurde ein Finanzbedarf von 372.300€ ermittelt. Unter folgender Kontonummer wurde ein Spendenkonto eingerichtet:
Lange hielten wir uns nicht auf in Wanzka, hatten wir doch in Ballwitz und Zachow lange Pausen gemacht. Nur am Wanzkaer See legten wir noch mal kurz die Füße hoch. Ein paar Dorfbewohner waren ebenfalls am Steg und schon wurden wieder Fragen gestellt, wo wir den hin wollten. Witzig war, dass sie an unserem Dialekt erkannt haben, dass wir aus Delitzsch kommen. Doch Schuhe wieder an und weiter! Denn es wurde uns recht kalt. Es mochten maximal 12 Grad sein und ein frischer Wind pfiff über den See. Weit konnte es aber nicht mehr sein. Über einen Bahnübergang, wo im Bahnwärterhaus ebenfalls eine Pilgerunterkunft sein soll, geht es hinein nach Rödlin. Es wäre sicher gut, wenn die Unterkünfte überall gekennzeichnet werden würden. Am Bahnwärterhaus sahen wir nämlich kein Herbergsschild.
Dafür sahen wir schon von weitem die weiße, neu verputzte Kirche von Rödlin mit ihrem charakteristischen Glockenturm mit Kupferhaube. Eine Besonderheit ist hier, dass sich der Glockenturm seitlich am Kirchenschiff befindet. Sie ist weit und breit die einzige Kirche im klassizistischen Baustil. Und? – Die Tür stand offen. Neugierig gingen wir hinein und wussten bereits, dass hier heute Hochzeit gefeiert wurde. Bei der Anmeldung sagte dies schon die hiesige Pastorin Pirina Kittel. Bester Laune begrüßte sie uns nun, als wir plötzlich auf Rosenblüten im Eingang standen. “Ich muss noch mal weg. Hier ist der Schlüssel zum Pfarrhaus. Sie finden sicher alles selbst” – und schon saß sie in ihrem Auto und brauste davon. Wieder ein ruheloser Pastor auf Rädern.
Staunend betraten wir das Grundstück des Pfarrhauses. Eine dicke Birke fiel uns sofort ins Auge. Sie ist mit bunter Wolle bestrickt. Später erfuhren wir, dass die Strickdecken von einer Aktion der Gemeindefrauen stammten und es danach einfach zu schade war, die Decken wieder auf zu troddeln. Also zog man kurzerhand den Pfarrbaum an, der nun als Blickfang auf der gepflegten Wiese vor dem Haus steht. Das schöne Haus umringt ein sehr gepflegter Garten. Die Obstbäume waren mustergültig geschnitten und standen in voller Blüte. Hier muss jemand mit einem grünen Daumen am Werke gewesen sein. Frau Kittel erzählte uns später, dass dies das Werk ihres Mannes sei und sie daran wenig Abteil hat.
Hinter dem Haus befindet sich ein Bootssteg im Kirchsee. Leider kann man den See noch nicht wieder zum Baden nutzen. Eine Schweinamastanlage ließ früher Gülle hier hinein. Die Schweineställe sind lange Geschichte. Aber der See erholt sich nur langsam. Schade eigentlich. Andererseits: Mit Badestelle wäre dieser Platz fast zu perfekt. An der Pilgerunterkunft wird noch gewerkelt. Hier auf dem Dachboden könnten ganze Fußballmannschaften übernachten, so viel Platz ist hier. Wir entschieden uns für das kleinste Zimmer, in dem ein Stockbett und zwei einzelne Betten standen. Der große Raum daneben wird offenbar für die Christenlehre genutzt. Bunte selbst gemalte Plakate, Karikaturen und Fotos zierten die Wände. Überall sah man Material zum Basteln und Spiele. Einige Papierschnipsel lagen noch auf dem Tisch. Hier ist Leben drin. Das sah man sofort.
Ebenfalls in diesem Raum – eine Küche mit allem, was man benötigt, um viele Menschen zu versorgen. Und auch für Pilger ist alles da, was man braucht. Und so machten wir es uns hier bequem. Vorher jedoch musste noch was in den Magen. Im Ort gibt es die Gaststätte und Pension “Nussbaum”. Und zu unserem Glück hatte die heute geöffnet. Na ja, ein Gourmet – Tempel ist es nicht gerade. Und das Mobiliar ist auch etwas in die Jahre gekommen. Aber für ein Bauernfrühstück und ein Bier war es gut. Die Pension bietet auch für Pilger Unterkunft. 25€ pro Person verlangt man pro Nacht, berichtete mir die Kellnerin auf meine Anfrage. Nun ja, ein Pilger übernachtet dann sicher doch lieber im Pfarrhaus. Und das hat sicher nicht unbedingt unr was mit den Kosten zu tun.
Als wir zurück kamen, setzten wir uns noch eine Weile in den schönen Garten. Wenig später kam dann auch Frau Kittel, mit der wir uns noch etwas unterhielten. Lange nicht, denn sie musste noch ihre Sonntagspredigt vorbereiten. Also flüchteten wir vor der Kälte in unsere Kammer und krochen schon vor der Dämmerung in unsere Schlafsäcke. Morgen geht es nach Wokuhl. Luftlinie ist das gar nicht so weit. Aber wie wir bereits gelernt hatten, der direkte Weg ist nicht immer der schönste. Und so werden wir auch morgen wieder einige Male hin und her laufen zwischen den Dörfern und so manchen Kilometer auf schönen Umwegen unterwegs sein.