Die Nacht war erholsam und ruhig. Ich habe glaube ich auch nicht geschnarcht. Mein Hals fühlt sich jedenfalls nicht trocken an. Also hatte Andrea auch eine ruhige Nacht. Nach dem üblichen Morgenritual frühstücken wir noch in der Küche. Ich habe noch ein paar gummiartige Baguettebrötchen im Rucksack und mit Butter und Leberwurst schmeckt das in den Kaffee getunkt ganz gut und der Kiefer hat nicht so viel zu tun. Pünktlich um Acht Uhr kommt dann auch Frau Leubner, die mit uns in die kleine Kirche gegenüber geht, um uns einen Pilgersegen zu geben. Sie drückt uns ein Liederbuch in die Hand. “Das wird schwierig” sage ich unumwunden. Natürlich weiß Frau Leubner, dass nicht nur Christen auf diesem Weg sind. Und so macht sie es uns leicht an diesem Morgen. Sie hat ein Lied heraus gesucht, dessen Melodie sogar wir kennen. Auf die Melodie hat Cat Stevens seinen Welthit Morning has broken geschrieben. Während Andreas* recht textsicher mit singt, summen wir zumindest leise mit und sind sehr gerührt von der Atmosphäre.
Mit folgenden Worten schickt uns Frau Leubner in den Tag:
So sind wir nun wieder allein. Auf dem schmalen Pfad, der sich Totenweg nennt, verlieren wir unsere bisherige Begleitung sehr schnell hinter uns aus den Augen. Das Wetter ist heute auch nicht besser als gestern und so sind wir ständig dabei, die Kapuze auf und wieder ab zu setzen. Der folgende Ort ist Weißenberg, eine Kleinstadt mit einem etwas überdimensionalen Rathaus. Wegen des Regens mache ich hier auch nur ein Foto und dann haben wir zu tun, die richtige Wegführung zu finden. Zum ersten mal auf dem öP habe ich das Gefühl verkehrt zu sein. Nach dem steilen rutschigen Abstieg vom Marktplatz laufen wir in großem Bogen um den Stadtkern, so dass ich das Gefühl habe, wieder zurück zu gehen. Doch beim Anblick des GPS Tracks auf meinem Garmin muss ich mich eines Besseren belehren lassen. Die große Richtung West stimmt.
Auf einem alten Bahndamm gehen wir aus der Stadt und wir bemerken gar nicht, wo wir sie eigentlich verlassen haben. Große Schilder, die auf einen Mühlenweg hinweisen, überdecken fast das Wegzeichen des öP. Aber ich kann mich sofort an die Beschreibung im Pilgerführer erinnern, in der es heißt, dass man wenn man sich auf dem Viadukt befindet, bereits zu weit gelaufen ist. Und so steigen wir vor besagtem Viadukt hinab vom Bahndamm auf einen breiten Feldweg. Der führt uns direkt zum Einstieg in die Gröditzer Skala. Dies ist eine Art Fluss – Canyon, in dem sich das Löbauer Wasser etwa 15 Meter tief in die Umgebung gegraben hat. Der Fluss schlängelt sich etwa 10 Meter breit durch das Tal und viele Wege begleiten ihn an seinen Ufern.
Nach dem steilen Abstieg ist die erste Herausforderung die Überquerung des Flusses über eine etwas abenteuerlich anmutende Brücke. Diese besteht aus einem einzigen Baumstamm, der an der Oberseite mittels Kettensäge etwas abgeflacht worden ist. An seinen Seiten gibt es ein Geländer aus krummen unbearbeiteten Ästen. Alles zusammen sieht zumindest von Weitem etwas lawede wie wir Sachsen sagen aus. Erst beim näheren Hinsehen erkenne ich, dass der Erbauer sich durchaus etwas gedacht hat und sein Handwerk offensichtlich versteht. Das Geländer erweist sich als stabiler als angenommen und so haben wir die Möglichkeit uns an ihm fest zu halten. Das ist auch nötig, da der Stamm durch den Regen, durch Verwitterung und durch darauf liegendem Laub sehr glitschig ist. Welchen Weg man danach flussabwärts wählt, ist eigentlich egal, da alle entlang des Flusses verlaufen. Hüten sollte man sich allerdings zu zeitig nach rechts aus dem Canyon nach oben zu steigen, da die Autobahn A4 sehr nahe verläuft und man sie sogar hier unten noch deutlich hört.
Wir wählen einen Weg, der direkt am Ufer des Löbauer Wassers entlang führt. So haben wir immer wieder schöne Bilder vor uns, die selbst bei diesem fiesen Wetter einen Kontrast bieten zwischen dem üppigen Grün, dass hier mitten im Herbst noch anzutreffen ist und dem sich windenden Flusslauf. Bald kommen wir auf eine große Lichtung. Das Tal öffnet sich und wir sehen oben am Waldrand das Gröditzer Schloss über die Baumwipfel schauen. “Da müssen wir hoch!” rufe ich Andrea zu, die etwas voraus ist, da ich wieder mal mit dem Fotoapparat beschäftigt war. “Die Muscheln zeigen aber hier unten lang” sagt Andrea. Also halten wir es so, wie die Wegväter und -Mütter es wollten. Wir bleiben unten. Das Tal wird wieder enger und auf der rechten Seite erscheinen sogar steile Felswände.
Dann sind wir endgültig raus und sehen die ersten Häuser von Gröditz. Der Aufstieg zum Schloss wird uns aber trotzdem nicht erspart. Japsend muss ich sogar einmal Halt machen, um wieder zu Puste zu kommen. Nee, mit meiner Kondition ist es noch nicht zum Besten gestellt. Oben angekommen gehen wir zum Schloss. Hier befindet sich auch eine Pilgerherberge. Wir entdecken davor einen hölzernen weißen Baldachin mit ein paar Bänken und einem Tisch darunter. Ein schöner Platz für das zweite Frühstück meine ich und schon ist der Rucksack runter. Irgendwie bin ich noch nicht so glücklich mit den Einstellungen der Trageriemen. Unter dem rechten Rippenbogen verspüre ich seit einiger Zeit einen stechenden Schmerz, den ich auch schon auf dem Weg in Mecklenburg hatte.
Ob es am Rucksack liegt, werde ich zu Hause mal ausprobieren, in dem ich mal ne längere Wanderung mit meinem alten Deuter mache. Könnte natürlich auch dran liegen, dass ich einfach zu fett geworden bin. Auf jeden Fall ist es lästig mit dem Bauch. Denn der Hüftgurt weiß nicht so recht wohin, meist rutscht er nach ein paar hundert Metern unter den Bauch und ist dort zu locker. So trage ich die ganze Last auf den Schultern, was nicht so günstig ist. Auch wenn es nur 8 bis 9 Kilo sind, auf die Dauer wirken die sich auch auf den Körper aus. Doch Essen ist auch wichtig, damit der Körper Energie bekommt. Also beiße ich noch mal kräftig ab, mache noch einen Schluck aus der Wasserflasche und schon geht es weiter.
Der folgende Weg bis nach Wurschen bietet keine Besonderheiten. Zuerst laufen wir über einen betonierten Wirtschaftsweg und dann eine Weile auf der Landstraße, bevor es wieder auf einen Feldweg geht. In Wurschen kann man sich leicht verlaufen. Erst ist es der Zugang zum privaten Schlosspark, der etwas versteckt hinter einer Einfahrt liegt und dann eine Zick -Zack Wegführung erst nach rechts auf die Straße und dann gleich wieder nach links zuerst auf eine Nebenstraße, die dann aber in einen Feldweg übergeht und aus dem Ort heraus führt.
Der Weg am Wasserschloss geht rechts an diesem vorbei. Im weiten Bogen gehen wir durch den riesigen gepflegten Schlosspark, in dem es immer wieder Schilder gibt, auf denen zu lesen ist, dass das Grundstück Privatbesitz ist und die Wiesen nicht betreten werden dürfen. Nach besagtem Zickzackkurs geht es etwas bergauf. Ist man oben, steht man etwa einen Kilometer hinter Wurschen unter einem großen Baum mit einer Bank darunter. Wieder eine willkommene Gelegenheit, den Rucksack für ein paar Minuten abzunehmen. Danach sind für einige Kilometer die stechenden Schmerzen wieder verschwunden. Nur ein paar Fotos zurück nach Wurschen und vorwärts nach Drehsa, schon geht es weiter.
Beim Blick auf Drehsa fällt ein hoher Turm auf, der aus dem Ort heraus schaut. Es ist ein Wasserturm, der zum Schloss Drehsa gehört. Am schlossartigen schön restaurierten Gutshaus steht dieser Turm, dahinter die Reste des Gutshofes in noch nicht restauriertem Zustand. Zu DDR Zeiten befand sich in dem Gut ein Kinderheim. Die Familie von Salza zu Lichtenau hat das Gut und das Schloss erworben und restaurieren die Anlage derzeit aufwändig. Den Turm kann man besteigen, wofür uns heute aber der Grund fehlt. Denn immer noch vermiest einem das Wetter die Aussicht. Hinter Drehsa dann wieder ein sehr schöner Abschnitt über einen uralten Feldweg, der auf einer Bergkuppe durch einen kleinen Wald führt.
Mitten im Wald, bereits beim Abstieg hat jemand eine Schutzhütte errichtet, in der man zur Not auch übernachten kann. Wir warten hier das Ende des Regenschauers ab und nehmen die Beine hoch. Als wir später aus dem Wald heraus treten, sehen wir zum ersten mal die Türme von Bautzen. Noch ganz schön weit weg und von der Karte weiß ich, dass die Wegführung nicht die direkteste ist. Wir treffen vor Waditz auf die Eisenbahnstrecke, auf der wie am Sonntag noch nach Görlitz gefahren sind. Ein ganzes Stück geht es an dieser entlang, ohne das ein einziger Zug kommt. Über Kubschütz, Baschütz und Jenkwitz gehend glaubt man des öfteren von Bautzen weg zu laufen.
In Kubschüz lädt eine schön gestaltete Bank zur Rast ein, was ich mir nicht nehmen lasse. Nun nur noch ein letzter Ruck. Als wir bei Auritz auf die B6 treffen, sind wir ganz froh, dass wir nicht schon eher an ihr entlang gehen mussten. Und so waren die kleinen Umwege so kurz vor der Stadt doch recht nützlich. Nach Bautzen hinein laufen wir immer an der stark befahrenen Bundesstraße entlang, eine Tortour, wenn man den ganzen Tag in der Natur war. Wir haben vor ins St. Petri Pfarrheim zu gehen und im dortigen Pilgerzimmer zu übernachten. Den Schlüssel dafür empfangen wir in der Bäckerei, die sich stadteinwärts hinter dem Pfarrheim befindet. Um zum Pfarrheim zu gelangen, muss man in der Töpferstraße 23 durch den Torbogen gehen und weiter zum Hinterhof.
Hier ist das große weiß/gelbe Haus nicht zu übersehen. Erst als wir über die Treppe bis in den 2. Stock gestiegen sind, bemerken wir, dass es auch einen Aufzug gibt. Diesen hätte ich ohne Skrupel auch benutzt nach dieser heutigen Tour. Falls nach uns auch jemand seine Skrupel verlieren will: Der Zugang zum Aufzug ist an der linken Seite des Hauses. Zum gläsernen Vorraum passt der in der Bäckerei empfangene Schlüssel. Im Pilgerzimmer stehen 6 Stockbetten. Bei Anmeldung sind sie wahrscheinlich auch mit Bettwäsche bezogen. Denn ein Bett war so vorbereitet. Wir nutzen jedoch unsre neuen kuschligen Schlafsäcke. Eine Toilette und eine Dusche, sowie eine kleine Küche befindet sich mit in der Pilgerwohnung. Wir sind gerade dabei uns häuslich einzurichten, da klopft es an der Tür. Herein tritt Christoph aus Berlin. Sein Dialekt verrät jedoch, dass er eigentlich mal wo anders zu Hause war. Ich will ihn aber nicht mit meinen Fragen weiter löchern.
Über das übliche woher und wohin kommen wir kaum hinaus, auch weil wir alsbald das Haus verlassen, um einen Stadtrundgang zu unternehmen. Ich war 1976 zum letzten Mal in Bautzen und erkenne es kaum wieder. Ein liebevoll restauriertes Haus reiht sich ans andere. Und das Bautzen so viele Türme hat, daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Wir gehen quer über den Marktplatz zur Wasserkunst, wo man einen schönen Blick ins Spreetal hat und laufen dann noch durch das Mühltor bis zur Ortenburg, um dort über die Schlossstraße wieder ins Stadtzentrum zu gelangen.
Der Petri – Dom ist leider verschlossen. Den hätten wir gern gesehen. Einige Restaurants haben im Namen den Senf verewigt. Bei den restlichen gibt es mindestens ein Gericht, in dem der Senf eine Hauptrolle spielt. Das erwartet man von Bautzen. Blauweiße Senfeimer stehen hier nicht auf der Straße weil man eine Warenlieferung vermutet, sondern als Werbung für einen Senfladen. Vieles dreht sich hier um die gelbe scharfe Paste. Was ist Senf eigentlich, ein Gewürz, eine Würzpaste? Auf alle Fälle sollte für mich Senf etwas in die Nase steigen, wenn man ihn pur isst. Für uns ist er in der Küche unverzichtbar.
Bei den vielen Sorten, die inzwischen auch von “Bautzner” angeboten werden, ist mir der Mittelscharfe der liebste. Und so suchen wir uns ein Restaurant mit Senfgerichten auf der Speisekarte. Lange müssen wir nicht suchen. Direkt auf dem Marktplatz gibt es das Surprise, ein Mischmasch aus Cafe, Pizzeria, Bierkneipe, Bar und Restaurant. Hier finden wir ganz sicher etwas. Und was wir da gefunden haben, war eine Pfanne Geschnetzeltes in einer Honig / Senfsoße – eine Wucht!! Die Augen waren aber wieder mal größer als der Magen. Und so habe ich ganz schön zu tun um abzuessen. Doch: “Er hebt das Glas und schlürft den Rest, weil er nicht gern was übrig lässt.”, um Wilhelm Busch in “Hans Huckebein der Unglücksrabe” zu zitieren. Sicher habe ich zu viel auf den Rippen, weil ich immer so schön aufesse. Draußen ist es unterdessen dunkel geworden und als wir das Lokal verlassen, regnet es natürlich auch wieder.
Nichts desto Trotz mache ich schnell noch ein paar Nachtaufnahmen der Stadt. Zurück in der Pilgerwohnung kommt bald auch Christoph von seinem Stadtrundgang zurück, der ebenfalls im “Surprise” gespeist hat. Schade, dass wir uns nicht getroffen haben. So bleibt es bei einer kurzen Begegnung. Denn am nächsten Tag entschwindet er mit einer Höllen Geschwindigkeit. Auch seine geplanten Etappenlängen entsprechen nicht unseren Vorstellungen. In der Hoffnung auf besseres Wetter gehen wir zeitig schlafen.