Camino Primitivo 14. Tag 19.9.2012 Melide – Salceda

1783 Camino Primitivo

Alle Befürchtungen der Stahltreppe wegen haben sich am frühem Morgen bestätigt. Die ersten „Nachtpilger“ polterten bereits vor 5 Uhr diese herunter und an Schlaf ist gerade nicht mehr zu denken. Also wälze ich mich vorsichtig aus dem sehr wackeligen Bett, um Andrea nicht zu wecken. Ab zur Toilette, na wenigstens hat jede Etage eine eigene. Licht an – NICHTS! Na prima, jetzt gibt´s nicht mal Licht – na vielleicht nach 6 Uhr. Doch auch nach 6 Uhr bleibt alles dunkel. Später wird dann von Jörg das Rätsel gelöst. Unsere Zimmergenossen, die schon vor 22 Uhr schlafen wollten, hatten vergeblich den Lichtschalter gesucht, weil da meine Klamotten am Bett drüber hingen. Also haben sie im Sicherungskasten den Hauptschalter ausgeschaltet. Da kann man lange suchen. Etwas seltsam waren die Kollegen schon, da sie am Morgen ja bemerkt haben mussten, wie wir vergeblich versuchten, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Doch keiner hat sich gerührt. Ist halt nicht jeder nett auf dem Camino.

Ganz unten das Video zur Etappe !

Als wir dann auch die Treppe herunter poltern, ist es 7.15 Uhr und draußen immer noch stockdunkel. Also rein in die nächste Bar zum Frühstück schräg gegenüber der Herberge.

Am Vortag hatten wir bei einem unabsichtlich belauschten Gespräch von einer Pilgerin aus Oberfranken ein neues Fränkisches Wort gelernt: Pilgerrabat (ihr müsst das fränkisch aussprechen, also das „r“ etwas rollen, da klingt es nochmal so schön).  Also probieren wir das gleich mal aus und bekommen das Frühstück für 3,20€. Dafür gibt es Tost, Kaffee und frisch gepressten Orangensaft mit … Pilgerrabat.

noch 50 Kilometer bis Santiago

noch 50 Kilometer bis Santiago

Dann geht es endlich los, immer noch im Finstern. Erst ein ganzes Stück hinter Melide beginnt es zu dämmern. Die Fotos an der schönen aus großen Steinen gelegten Brücke sind also recht dunkel geworden. Vor mir quält sich mit ganz kleinen Schritten eine etwas ältere, ziemlich übergewichtige Finnin über die Steine. Sie ist uns schon am Vortag aufgefallen, weil sie allem Anschein nach massive Probleme mit ihren Füßen hatte und ziemlich „unrund“ lief. Man was muss die für einen starken Willen haben, dieses Unternehmen zu Ende führen zu wollen. Und ich erinnerte mich wieder an das Vorjahr, als ich auch mit ganz kleinen Schritten über diese Brücke ging und Andrea eins der wenigen Fotos an diesem Tag schoss. Ich hatte andere Probleme an diesem Tag als zu fotografieren. Und die kleinen Schritte machte ich nicht wegen meiner Füße, sondern wegen eines Magen/Darm Infektes. Nee, mir war wirklich nicht zum Lachen.

Ganz anders auf dem diesjährigen Camino, die schweren Etappen haben wir hinter uns und ich habe noch nicht mal eine Blase an den Füßen. Jana hat sich durch ihren Ruhetag auch wieder etwas erholt und ist wieder diese Frohnatur, die auch lacht, wenn es weh tut. Andrea hat immer noch mit ihrem Rücken zu tun und versucht tapfer das humpeln zu unterdrücken. Bei Jörg bahnt sich dagegen eine Erkältung an. Ich scheine also der einzige zu sein, dem es rundum gut geht, was mich bei meiner so gut wie völlig ausgebliebenen Vorbereitung auf diesen Weg, doch sehr verwundert. So bin ich mit meinem Übergewicht zwar recht langsam und schnaufe bei jeder kleinen Steigung wie eine Dampflok aber die Zeiten, bis ich wieder normal – Puls habe, werden immer kürzer.

Ortseingang Arzua

Ortseingang Arzua

Also schnaufe ich auf Arzua zu, einer Stadt, die ich auch nicht in bester Erinnerung habe. Besonders schön ist die Strecke in die Stadt hinein nicht, auch nicht durch den wiederum strahlend blauen Himmel. Wir sind seit einigen Tagen in Galicien und immer noch hat es nicht geregnet. – Das muss der Klimawandel sein!

In einem Obstladen an der Hauptstraße versorgen wir uns mit frischen Äpfeln und Pfirsichen, die wir gleich auf der Bank davor vertilgen. Etliche Pilger ziehen an uns vorbei, alles welche, die wir noch nie zuvor gesehen haben. Da macht sich der Unterschied zum Primitivo deutlich bemerkbar, wenn ich auch mit noch mehr Pilgern gerechnet hatte. Es geht bisher recht geruhsam, manchmal sogar einsam zu auf dem Frances – seltsam.

"gefährlicher" Zebrastreifen in Arzua

“gefährlicher” Zebrastreifen in Arzua

Und dann die Stelle, weswegen ich Arzua in keiner guten Erinnerung habe, ein hinterlistiger Zebrastreifen. 750 Kilometer hatte ich bis hier her im vorigen Jahr ohne größere Schäden (sieht man mal von den paar Fußblasen ab) zurück gelegt und dann kam er, der glitschige, nasse, weiße Streifen und brachte mich zu Fall. Ich landete sehr schmerzhaft auf dem linken Knie. Das muss lustig ausgesehen haben. Das hätte es aber auch gewesen sein können, so kurz vorm Ziel. Doch nach vorübergehendem „Aua“ ging es weiter, mit dem bereits bekannten Happyend.

Auf dieses hoffen wir heute auch, denn wir haben als Ziel nicht wie zuerst geplant Pedrouzo, sondern die neue kleine private Herberge in Salceda auserkoren. So umschiffen wir die für Jana psychologisch so schwierige Hemmschwelle der 30 Kilometer. Später erfahren wir, dass es an diesem Tag in Pedrouzo durch vorübergehende Schließung einer Herberge zu Problemen mit den Unterkünften gekommen ist. „Alles fügt sich“, „Es gibt für jedes Problem eine Lösung und manchmal kommt sie von allein“, lauter solche Sprüche fallen mir dazu ein. Alle hatte ich sie schon auf den Caminos gehört. Aber noch komme ich nicht raus aus meiner Haut und bitte Jürgen schon in Melide doch mal in Salceda in der Herberge anzurufen und uns vier Betten zu bestellen. Was er mit Bravour mittels seiner Spanisch – Kenntnisse erledigt hatte. Am Nachmittag des heutigen Tages sollte sich zeigen, wie sinnvoll dieses Telefonat am Morgen war. Im Vorjahr sind wir fast völlig ohne Vorbestellung durchgekommen und hatten überall in der ersten angesteuerten Herberge ein Bett. Aber diesmal fühle ich mich irgendwie verantwortlich, weil ich doch den Etappenplan vorgeschlagen habe. Ich weiß ja, dass das Quatsch ist. Aber das ist halt drin.

Hohlweg hinter Arzua

Hohlweg hinter Arzua

Immer mehr Eukalyptuswälder säumen den Weg. Wenn man nicht genau wüsste, welch ökologischen Schaden diese Gewächse in der hiesigen Fauna anrichten, könnte man sich an der Exotik und der beeindruckenden Größe der Bäume erfreuen. Auch der Geruch ist interessant, weil eben anders.

In Castaneda, nach einem kleinen Anstieg machen wir wieder eine Pause, genau in der Herberge, in der wir 2011 übernachtet hatten. In der darunter befindlichen Bar hatte man mir damals wegen meiner Magenbeschwerden Schonkost dargeboten, das erste, was ich an diesem Tag drin behielt.

Dann auf dem weiteren Weg eine Schrecksekunde, ein offenbar Geistesgestörter kommt mit einer Höllen Geschwindigkeit in einer riesigen Erntemaschine mit Schneidwerk an der Vorderseite auf einem Hohlweg auf uns zu. Jörg und ich haben Glück, weil wir uns gerade an einer kleinen Ausbuchtung befinden und so rechtzeitig zur Seite springen können. Andrea und Jana sind etwa 20 Meter hinter uns und wir sehen, dass sie sich nur noch durch einen Sprung in eine Brombeerhecke retten können. Entsetzt schauen wir der Maschine hinterher und sehen, dass es nur um Zentimeter ging, sonst wäre der Fuß von Andrea überfahren worden. So ein Idiot, schreien wir hinterher. Alle um uns herum schütteln den Kopf. Der Fahrer war wahrscheinlich frustriert, weil er auf dem engen Weg mit seiner Maschine wegen der vielen Pilger nicht voran kommt. Aber deshalb Menschenleben riskieren? Dahinter kommt noch ein Traktor, der aber rücksichtsvoll und langsam fährt. Nur etwa 100 Meter weiter sehen wir ein frisch abgeerntetes Maisfeld. Die Hemmschwelle des rücksichtslosen „Idioten“ schien also nicht sehr hoch zu sein und ich hoffe, dass ihn irgendjemand mal einem Psychiater vorstellt.

Pilgerraststätte Made in Südtirol

Pilgerraststätte Made in Südtirol

Auf den Schreck einen Kaffee, denn etwas weiter finden wir einen Hof, an dessen dem Weg zugewandten Seite ein Regal steht. In diesem finden wir neben Wasserflaschen, Obst und Kaffeekannen auch eine Kasse des Vertrauens. Im Garten sind Bänke und ein Pavillon aufgebaut. Diese Einladung können wir einfach nicht abschlagen und so füllen wir die bereit gestellten Becher und setzen uns in den Garten, nachdem es in der Kasse geklappert hatte. Andrea müsste eigentlich mal auf die Toilette, am Haus steht aber ein Schild „Privado“ und sie traut sich nicht hinein, obwohl die Türe offen steht. „Leute, die solch einen Stand aufbauen, haben bestimmt nichts gegen Pilger in Not“, sage ich zu ihr. Aber ich brauche sie nicht weiter beruhigen, denn eine Mittvierzigerin tritt aus dem Haus und meint, dass sie doch deutsche Stimmen zu hören glaubte. Sie fragt uns nach unserer Herkunft und wo wir losgelaufen sind. Es ist Heidi Tansin. Die Südtirolerin erzählt uns dann ihre packende Geschichte, wie sie hier her gekommen ist, was ihre Motive waren und welche Probleme sie bei der Verwirklichung ihres Traumes hatte. Sie hatte sich in diesen Camino verliebt und wollte an ihm irgendwann Leben. Nach langen Wirren und viel Bürokratie bekam sie dieses große Grundstück nebst Haus und war dabei, den Garten zu kultivieren und eine Alpacca – Zucht aufzubauen. Sie erzählt davon eines Tages hier auch Pilgern eine Unterkunft zu geben. Dann verfinstert sich aber ihre Mine und sie erzählte von den im wahrsten Sinne des Wortes tiefgreifenden Veränderungen am Weg. Etwa 300 Meter hinter ihrem Grundstück wird nämlich eine neue Autobahn gebaut, eine Autobahn die niemand braucht. Aber EU Fördergelder machen es möglich. So lange noch Mittel aus Brüssel und Madrid fließen, hat die Bau – Mafia das Sagen und kümmert sich einen Dreck um die Anwohner. Sie klingt sehr verbittert. Verständlich, sieht sie doch gerade ihren Lebenstraum platzen. Ständig diese Sprengungen und der Baulärm, in dem Bewusstsein, dass diese Autobahn eigentlich überflüssig ist, das zermürbt. Uns ist ja auch bereits aufgefallen, dass die Autobahnen, über die wir bis jetzt gelaufen sind, eher den Eindruck eines autofreien Sonntags machten und die Landstraßen auch recht leer sind. Einen Stau hatten wir noch nie bemerkt. Und so wuchsen unser Verständnis und unser Mitgefühl mit den Schilderungen dieser starken Frau, die bei allen Sorgen sich auch noch um die Pilger kümmert. Natürlich konnte Andrea ins Haus…

Autobahnbaustelle bei Calzada

Autobahnbaustelle bei Calzada

Im Weitergehen überqueren wir die riesige Autobahnbaustelle. Na wenigstens wird die Fahrbahn hier etwa 20 Meter abgesenkt, da wird der Lärm (so denn welcher entsteht) wenigstens nicht so groß. Wenig später erreichen wir Salceda. Die Herberge liegt etwa einen Kilometer abseits vom Weg. Schon von Weitem erkennt man, dass diese Herberge was besonderes ist. Da hier auch eine Pension betrieben wird, haben die Betreiber eine sehr schöne Außenanlage mit Springbrunnen, Fischteichen, einer Bar und einem großen, unter gewölbten Zeltdächern untergebrachten Restaurantbereich geschaffen. Alles sieht sehr gepflegt aus und die Pilger, die in den 12 Betten unter kommen, haben dieses Ambiente gratis. Hier zahlte es sich aus, dass wir bestellt hatten, denn ein paar junge Leute, die vor uns da waren, müssen auf die alten Matratzen in einen Nebenraum. Es gibt zwei nach Geschlechtern getrennte Sanitärbereiche mit je einer Toilette und einer Dusche. Auch hier könnte man die Hand eines Designers vermuten. Denn statt der sonst üblichen Kacheln befinden sich hier schwarze Natursteine an den Wänden und die Duschkabinen sind aus Echtglass. Das Licht kommt großflächig von einer der Wände, die mit Milchglas verblendet ist. Alles sehr sehr schön und man fühlt sich sofort wohl.

Jörg mit Hartmut, der aus Greifswald hierher gelaufen ist

Jörg mit Hartmut, der aus Greifswald hierher gelaufen ist

Ich setze mich mit Jörg an die Bar. Da kommt ein Pilger mit grauem Rauschebart auf uns zu und ruft schon von Weitem:“Ah, ich höre deutsche Stimmen!“ Es ist Hartmut aus Greifswald, der am 1. Juni Rentner geworden war und genau da in Greifswald los gelaufen ist. Die ganze Strecke zu Fuß!!. Wahnsinn!! Wir sind schrecklich interessiert an seiner Geschichte. Er hatte nach den ersten 1000 Kilometern bereits 20 Kilogramm von seinen 115 abgenommen. Er spricht kein Wort Französisch oder Spanisch und gibt sich auch keine Mühe damit, ist aber trotzdem bis hier her gekommen. Die lange Zeit in Frankreich war sehr einsam und teuer, denn in Frankreich hat er kaum Herbergen gefunden. Er erzählte uns von seiner Arbeit beim Jugendherbersverband vor und nach der Wende und der Überzeugungsarbeit bei Puschelchen. Puschelchen, das ist seine Frau und die musste recht lange „bearbeitet“ werden, bis sie seinem Vorhaben zustimmte. Gespannt lauschen wir seinen Erzählungen und die Zeit bis zum Abendessen vergeht wie im Fluge.

Doch noch mal zur Herberge:

Der Betreiber versuchte den leichten und lockeren Eindruck  der Unterkunft noch dadurch zu verstärken, dass er bisher zu keiner Zeit auf die Bezahlung oder die Vorlage des Pilgerausweises drang. Jedes Getränk, das bestellt wurde oder die Waschmaschine, die wir benutzten, immer sagte er: „Das machen wir später.“ Und hier zeigte sich die Unerfahrenheit, denn Absicht möchte ich auf keinen Fall unterstellen. Die Schlussrechnung wurde uns (wir waren mit Jürgen zusammen fünf) auf einem Bon dargeboten und wir mussten sehen, wie wir das auseinander klamüsern. Da wir einige Getränke auch sofort an der Bar bezahlt hatten, diese aber nun doch wieder auf der Rechnung auftauchten, meldeten wir leisen Protest an, dem zwar sofort ohne Diskussion statt gegeben wurde aber irgendwie ein ungutes Gefühl hinterließ.

schöne private Herberge in Salceda

schöne private Herberge in Salceda

Ein Tipp also von mir: Wenn ihr hier mal einkehren solltet und dazu kann ich trotzdem nur raten, bezahlt sofort nach Ankunft die Unterkunft und an der Bar sofort die Getränke, um spätere Komplikationen zu vermeiden. Auch wenn die Leute abwiegeln, lohnt es sich beharrlich zu bleiben. Vielleicht ändert die dortige Mannschaft auch irgendwann dieses etwas eigenartige Geschäftsgebaren. Denn ein Gefühl kam am Ende bei jedem von uns hoch, das den positiven Gesamteindruck unnötig ab mindert, ein Gefühl, dass ich bisher am Camino nie gehabt habe. Das Gefühl abgezockt worden zu sein. Wenn ich auch keine Absicht unterstellen möchte, der unangenehme Eindruck bleibt.

Hier das Video zur Etappe (aus lizenzrechtlichen Gründen leider ohne Hintergrundmusik):

 

 

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