Wir sitzen in der gut ausgestatteten geräumigen Küche und frühstücken. Es gibt die Reste von gestern. (Was sonst?) Heute geht es über Stollberg bis kurz vor Zwickau nach Reinsdorf. Laut Karte ist viel Wald dabei aber auch zwei längere Strecken direkt neben der Autobahn A72. Na wird schon nicht so schlimm werden. Ebenfalls aus der Karte erfahre ich, dass es in Reinsdorf eine Einkaufsmöglichkeit gibt. Und wenn wir nicht gar zu sehr bummeln, dann hat die auch noch offen, wenn wir ankommen. Das erspart uns schon mal zusätzliche Kilos im Rucksack. Wir ziehen noch die Betten ab, packen die Rucksäcke wieder ein und auf der sehr langen Treppe nach unten merke ich, dass mein Muskelkater fast verschwunden ist – Na wird doch!)
Unten ist Herr Peger schon wieder zu Gange. Wir verabschieden uns und danken für die nette Aufnahme. Er berichtet noch schnell von seinem neusten Projekt: Aus dem Erzgebirge stammen doch die Lichterbögen und die Weihnachtspyramide. Und eben eine solche hat er vor zu bauen, ziemlich groß, also für draußen und mit Pilgermotiven. Am 29 November ist große Enthüllung und zwischenzeitlich hat Herr Peger uns eingeladen, daran teil zu nehmen. Na mal sehen ob es klappt. Auf alle Fälle möchte ich ein Foto von der Pyramide. Dann machen wir uns aber auf den Weg. Aus Jahnsdorf heraus führt der Weg zunächst leicht ansteigend über Felder und Wiesen in einen tiefen Wald.
Der morgendliche Dunst steigt aus den Bäumen. Auf dem Auf und Ab des Weges begegnet uns nur ein Geländefahrzeug mit Waldarbeitern. Ansonsten sind wir wieder völlig allein. Bis auf einen Pilger am ersten Tag in Falkenau, der mit uns aber scheinbar nichts zu tun haben wollte und wir ihn deshalb nie wieder sahen, waren wir noch keinem anderen begegnet.
Kurz vor Stollberg, das man schon im Tal sehen kann, setzen wir uns zu einer kurzen Rast auf eine Bank. Hier hat man einen schönen Ausblick auf die Querenbach – Talsperre und auf die Stadt Stollberg. Wir sind umzingelt von Pilzen oder besser “Schwammel” wie man hier sagt. Und so dauert es nicht lange, bis ein Schwammelsammer mit einem alten Diamant – Rad von Stollberg her den Berg herauf schnauft. Sehr gesprächig scheinen die Leute hier nicht zu sein. Kaum ein Gruß geht über die Lippen des Radfahrers. Ich bedaure beim Weitergehen wiederum, dass ich keine Pilze mitnehmen kann. “Wenn wir wieder zu Hause sind, müssen wir unbedingt mal in die Goitzsche Pilze suchen”, sage ich zu Andrea. Leider ist die Stelle, an der ich immer auf “Jagd” war dem letzten Hochwasser zum Opfer gefallen. Riesige Landmassen, zusammen mit allem was darauf wuchs, wurde in den großen Goitzschesee gespült. Na vielleicht blieb doch noch was erhalten.
Der Weg hinein nach Stollberg ist recht entspannend, denn es geht leicht bergab. Es ist zwar noch etwas kühl aber das Wetter meint es heute wieder gut mit uns. Stollberg ist eine Kleinstadt am nördlichen Rand des Erzgebirges. Es liegt auf rund 450 Metern über Meereshöhe und hat derzeit rund 11 Tausend Einwohner. Die Stadt wurde 1343/46 erstmals urkundlich erwähnt und gehörte abwechselnd zu Böhmen und ging ab 1459 als böhmisches Lehen an Sachsen. Der Fluss Gablenz, der die Stadt durchfließt, hatte hier eine Furt. Und so trafen sich hier bereits im Mittelalter zwei wichtige Handelswege, der Böhmische Steig von Altenburg nach Prag und die Frankenstraße (hier als Chemnitzer Straße bezeichnet), auf der wir unterwegs sind.
Weithin sichtbar ist das Schloss Hoheneck, welches links vom Weg auf einem Berg thront. Auf den Grundmauern einer mittelalterlichen Grenzfeste (Staleburg – Namensgeber der Stadt) und eines Jagdschlosses aus dem 16. Jahrhundert errichtet, war das Schloss ab 1862 Sächsisches Weiberzuchthaus. Im 3. Reich wurde es zuerst ebenfalls als Haftanstalt und später als Lazarett genutzt. Zu DDR Zeiten erlangte es als Frauengefängnis für politisch Inhaftierte traurige Berühmtheit. Heute befindet sich hier eine Gedenkstätte. Unser Weg führt uns aber nicht hinauf auf den Burgberg, sondern mitten in die historische Altstadt. Zuvor finden wir auf dem Postplatz eine Bäckerei mit Freisitz davor, wo wir uns ein Weilchen niederlassen.
Auf der Suche nach einer Apotheke weichen wir etwas vom eigentlichen Weg ab. Meine Schmerzen am rechten Rippenbogen werden immer schlimmer und ich kaufe mir ein paar Schmerztabletten. Zurück zum Weg finden wir sehr leicht. Denn schon von Weitem sieht man den Glockenturm der gotischen St. Jakobikirche. Diese ist (wie sollte es auch anders sein) leider verschlossen. Sehenswert ist auf dem anschließenden Marktplatz das Rathaus und weiter am Rande der Altstadt die kleine katholische Marienkirche. Sie hat von dieser Seite aus betrachtet Ähnlichkeit mit der kleinen Rundkirche von Marienberg, die in vielen weihnachtlichen Motiven des Erzgebirges zu sehen ist.
Leicht ansteigend geht es heraus aus Stollberg. Hinter einem großen Gewerbegebiet und dem Autobahnzubringer ist dann schon deutlich der Verkehrslärm der A72 zu hören. Wenig später haben wir die Autobahn an der Abfahrt Stollberg West im Blick. Parallel zur Autobahn verläuft ein von Obstbäumen gesäumter Fahrweg, die alte Stollberger Straße. Das erinnert mich hier etwas an den Autobahnzaun an der A12 vor Navarrete. Nur das hier (noch?) keine Kreuze in den Zaun geflochten sind. Andrea hat Probleme mit ihren neuen Wanderschuhen und ärgert sich, dass sie nicht ihre alten noch mal angezogen hat. Nun läuft sie in Sandalen weiter. Der Weg ist zwar trocken und recht eben aber aus eigener Erfahrung vom Camino Frances, bringt das nur anfangs etwas Erleichterung. Man merkt nach einigen Kilometern schnell, dass der Fuß keinen richtigen Halt hat und die Muskulatur verkrampft.
Eine Frau kommt auf einem mit Kaufland – Beuteln bepackten Fahrrad daher. “Da habt ihr euch aber schönes Wetter rausgesucht!” ruft sie uns zu. Wenn das so leicht wäre mit dem Wetter…., denke ich bei mir. Ein ganzes Stück hin sehe ich, dass die Frau stehen bleibt und herunter gefallenes Obst am Wegesrand sammelt. Schnell kommen wir näher und wir geraten ins Gespräch mit ihr. Sie schiebt nun ihr Fahrrad neben uns her und sagt feierlich, dass wir richtig Glück haben, denn sie ist die derzeitige Ortschronistin von Neuwürschnitz. Das ist der Ort auf den wir nun zu gehen. Nicht ohne Stolz in der Stimme berichtet sie von den Sehenswürdigkeiten und der Geschichte des Ortes und der Stadt Oelsnitz, in die der Ortsverband Neuwürschnitz vor einigen Jahren eingemeindet wurde.
Auch hier gibt es damit die gleichen Probleme, wie nach der Eingemeindung unseres Heimatdorfes in die Stadt Delitzsch. Zuerst wird alles mögliche versprochen und später ist das Hemd näher als die Jacke und man muss sich unablässig Gehör verschaffen bei den Stadtoberhäuptern, um nicht Außen vor gelassen zu werden. Auch aus diesem Grund haben wir einen Heimatverein bei uns gegründet und sind mit ihm in die Politik eingezogen, nach den letzten Kommunalwahlen sogar in den Stadtrat. Wir überqueren am Ortseingang die Würschnitz und merken sehr schnell, dass die Frau (ich habe leider ihren Namen vergessen) hier sehr bekannt ist. Sie begleitet uns weiter zum Vereinshaus, obwohl es ein Umweg für sie ist.
Wir staunen nicht schlecht, als wir das Haus sehen. Es handelt sich um die ehemalige Schule. “So ein Vereinshaus hätten wir auch gern!” sage ich. Wir hoffen immer, dass zu unseren Versammlungen nicht alle Mitglieder kommen. Denn wenn sie allen rein gehen in den kleinen Raum, der früher mal eine Konsum – Verkaufsstelle war, dann gehn eben nicht alle rein. Neuwürschnitz hat einen unschlagbaren Vorteil, einen Bundestagsabgeordneten, der sich sehr um seinen Heimatort bemüht. Obwohl wir mit unserem Heimatverein bis zu 45 Veranstaltungen im Jahr organisieren, müssen wir neidlos anerkennen, dass hier auch richtig was los gemacht wird. Da gibt es mehrere sehr aktive Vereine, wie z. B. den Musikverein Neuwürschnitz e. V., der Neuwürschnitzer Carnevalsverein e. V., der Gartenverein „Heimaterde“ e. V., der Freizeittreff der Kinder- und Jugendvereins Niederwürschnitz oder auch die Heimatstube ansässig. Alles zusammen bildet das Soziokulturelle Zentrum (SKZ). Doch wir müssen weiter, so interessant die Ausführungen der Chronistin auch sind.
Wir verabschieden uns also herzlich, machen aber an der Lutherkirche am Ortsausgang noch eine kleine Rast, um etwas zu essen. Im anschließenden Wald müssen wir ganz schön aufpassen. Denn es geht mächtig im Zickzack. Man hat am Ende den Eindruck, im Kreis gelaufen zu sein. Es ist auch etwas sumpfig hier und ich bin gespannt, wie Andrea mit ihren Sandalen durchgekommen ist. Alles gut! Auch die Wegweiser, auch wenn es keine Muscheln waren, sind ausreichend und gut zu sehen. Nun sitzen wir angelehnt an riesige in weiße Plastikfolie eingewickelte Heuballen in der Sonne und machen schon wieder Pause. Ich brauche die Pausen, wenn das Stechen in der Brust wieder zunimmt. Danach geht es dann wieder für einige Kilometer. Diese bringen uns nun ein Stück zuerst direkt an einer stark befahrenen Straße entlang dann aber durchweg auf Feld- und Waldwegen in einem großen Bogen zurück zur A72, unter der ein Tunnel hindurch führt.
Nach dem Tunnel öffnet sich ein weiter Blick ins Erzgebirgsvorland. Da liegen die Orte Zschocken, Hartenstein, Wildenfels und Härtensdorf wie auf einem Präsentierteller vor uns. Weit hinten sieht man bereits die Ausläufer der Stadt Aue, ein prächtiger Anblick. Zudem ist die Fernsicht heute fantastisch. Mir fällt seit einiger Zeit auf, dass an jedem Rastplatz am Weg mit Rasterband eine Sonnenblume befestigt ist. Da hat sich aber jemand auf dem Weg viel Arbeit gemacht. Ist aber anscheinend schon ne Weile her, was am Zustand der Blume zu erkennen ist. Nach dem Rastplatz folgt dann ein nicht so schöner Abschnitt des Weges, jedenfalls wenn man nach rechts schaut. Denn rechts lärmt die Autobahn und links dagegen hat man immer noch die herrliche Aussicht ins Erzgebirgsbecken.
Doch zum Glück sind wir gerade hier recht gut zu Fuß und es geht für unsere Verhältnisse richtig zügig voran. Oder liegt es nur daran, der Autobahn möglichst schnell zu entfliehen? Kurz bevor wir dies nach rechts unter der A72 hindurch dann tun, laufen wir an mehreren ziemlich neuen Wohnhäusern vorbei. Ob die damals, als sie gebaut haben wussten, welche geräuschvolle Nachbarschaft sie mal haben werden? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, so zu wohnen. Mit jedem Schritt auf der folgenden kleinen Asphaltstraße wird der Lärm geringer. Kurz bevor wir hinunter zur S286 gehen, die man nur in einem U – förmigen Schlenker nach links und auf der gegenüber liegenden Seite wieder nach rechts hinauf überqueren kann, sehen wir bereits unser Ziel, die Kirche von Reinsdorf. Nach der Straße geht es durch eine alte Allee auf einem schmalen Wiesenweg hinunter zum Ortseingang von Reinsdorf. Wir wähnen uns bereits am Ziel, müssen aber feststellen, dass der wirklich hübsche Ort im Tal des Reinsdorfer Baches elend langgezogen ist. Eigentlich sieht es eher wie eine Streusiedlung aus, bei der an einer Hauptstraße entlang einige Höfe gebaut wurden. Wir sind zwar schon in der richtigen Straße, vom Kirchturm ist aber weit und breit nichts zu sehen. Ein schöner Drei- oder Vierseitenhof folg auf den anderen.
Erst nach gefühlten 3 Kilometern auf einem Radweg etwas außerhalb des Ortes, hinter den Höfen sozusagen, erblicken wir wieder den riesigen Turm aus roten Ziegeln. Zum Schluss übersehen wir dann auch noch ein Muschelschild oder deuten seine Richtung falsch (hier auf diesem Abschnitt des Weges waren mehrere Muschelschilder verkehrt herum geklebt, also nicht mit der Wurzel in Richtung Santiago!) und finden uns plötzlich auf einem Vierseitenhof wieder. Eine Frau kommt aus der Haustür und blickt uns fragend an. “Wir sind hier sicher verkehrt.” sage ich. “Ja, aber gehen sie ruhig weiter hier hinaus zum Tor und dann links, da steht das Pfarrhaus.” Aha, hier weiß man also was es mit den Rucksackträgern auf sich hat. Und richtig – stehen wir nach wenigen Schritten unmittelbar vor der riesigen Kirche. Mir erscheint sie ja im Vergleich mit dem Dorf etwas überdimensioniert zu sein. Da wir ja hier übernachten, ersparen wir uns den kleinen Anstieg hinauf zur Kirche und gehen direkt zum Pfarrgut.
Dieses finden wir direkt neben der Kirche. Und es wird sich später sicher noch genügend Zeit und vielleicht auch ne Möglichkeit finden lassen, das Gotteshaus auch von Innen zu betrachten. Wir setzen uns an einen Brunnen vor dem restaurierten Gutshaus und ich rufe Herrn Wandrack an, der sich neben dem Friedhof als eine Art “Mädchen für alles” auch um das Pfarrgut kümmert. Kurze Zeit später erscheint er und zeigt uns das Pilgerzimmer. Das Gutshaus wurde bei der Restaurierung umgebaut. Unten befinden sich Wirtschafts und Veranstaltungsräume und oben drei Wohnungen. Und weil zwischen den Wohnungen ein schmaler Schlauch Platz war, entschied man sich auch zu unserem Glück, hier eine Pilgerunterkunft einzurichten.
Schweren Schrittes stapfen wir die Außentreppe nach oben in den ersten Stock. Auf einem breiten hölzernen Balkon sind die Eingänge zu den Wohnungen und zum Pilgerzimmer. Dieses ist wirklich recht schmal, jedoch völlig ausreichend. Im vorderen Teil befindet sich ein Stockbett (aha, hier muss ich wieder klettern und brauche meinen Schlafsack) neben einem Tisch und im nächsten hat man eine kleine Küche eingebaut. Ganz hinten befindet sich der Sanitärbereich mit Waschbecken, Toilette und Badewanne – jaaa Badewanne. Für eine Badewanne musste ich in Spanien auf unserem ersten Jakobsweg 400 Kilometer laufen. Denn erst in Carrion de los Condes hatten wir uns eine Pension mit Badewanne genommen.